Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
für uns nicht die Welt aus den Angeln heben und verkehrt herum wieder aufhängen muss.«
    »Das klingt viel einfacher, als es ist«, widersprach Esther.
    »Natürlich tut es das. Aber von uns Weavers sind nur noch so wenige übrig, dass wir nicht wählerisch sein können. Wobei ich Lydia, wenn sie diesen exquisiten Namen gern wieder hätte, jederzeit zur Verfügung stünde.«
    »Horatio!«, fuhr Lydia auf und schlug die Hände über den Kopf.
    »Ich wollte das nur angemerkt haben. Und jetzt gehen wir, eine Flut von Telegrammen aufgeben und nach Mildred sehen, ja? Es gibt da noch etwas, das mich seit Tagen wurmt …«
    »Was wurmt dich denn, du dickschädeliger Mann?«
    »Die Karte. Die angeblich von Selenes Mutter stammt. Ich will sie mir noch einmal ansehen.« Damit stand er auf und war schon aus der Tür.

    Esther hatte nicht mitgehen wollen, doch als sie erst einmal unterwegs waren, tat es ihr gut, nicht länger stillzusitzen. Sie führte aus, wozu die anderen ihr rieten, sandte Selene ein Telegramm auf die Titanic, und während sie die Buchstaben in die Kästen des Formulars füllte, verspürte sie Erleichterung. Zumindest konnte sie Selene schreiben, dass sie sie liebte. Zumindest konnte sie sie bitten: Hör mich noch einmal an. Horatio hatte recht, selbst wenn Selene sie zurückwies, mochte es ihr helfen, die Worte zu lesen.
    Horatio wurde, während sie das Telegramm an Phoebe formulierten, ständig zappeliger und bestand darauf, den kurzen Weg nach Mount Othrys in seinem Wagen zu fahren. Georgia fegte die Halle des Hotels aus. »Wir haben viel mehr Gäste als sonst in der Vorsaison«, entschuldigte sie sich. »Es hieß ja, die Unterschiede zwischen Arm und Reich würden verwischen, doch wie es aussieht, wollen die Reichen ihre Welt genießen, solange sie noch steht.«
    »Habt ihr das eigentlich immer getan?«, fauchte Lydia. »Von diesem verdammten Hotel geschwatzt, während um euch eure Familie zerbricht?«
    Horatio küsste sie auf den Scheitel und drängte sie und Esther durch den Garten zum Haus. »Wenn das verdammte Hotel nicht mehr ist«, rief Georgia ihnen hinterher, »woran hält unsere Familie sich dann in Stürmen fest?«
    Esther fürchtete sich, Mildred in die Augen zu sehen, aber die Furcht war unbegründet. Die beiden Menschen, die ihre Kindheit bestimmt hatten, ihr Vater und Mildred, hatten jeden Lebensgeist verloren. Ihr Vater lag mit verkrampften Fäusten auf dem Tagesbett, und Mildred saß am Rollpult, das sie in den Salon geschoben hatte, um zu arbeiten, ohne ihn allein zu lassen. Die eine starrte so blicklos vor sich hin wie der andere.
    »Ich erledige nur schnell die Post«, murmelte Mildred, die einen Umschlag in der Hand hielt, als Horatio vor das Pult trat. Er suchte in den Papieren auf der Schreibplatte, und sie tat nichts, um ihn zu hindern. Es dauerte nicht lange, und er hielt die Karte in die Höhe. Lydia, die sie noch nicht kannte, schob sich neben ihn und las. Esther hingegen wollte das Grauen, das ihr aus den ungelenken Buchstaben entgegensprang, nie wieder sehen.
    »Und?«, fragte Lydia, nachdem sie sich vor Widerwillen geschüttelt hatte. »Erkennst du die Schrift?«
    »Ja«, sagte Horatio. »Ich hätte sie sofort erkennen sollen, aber ich gehöre wohl auch zu denen, die manches nicht wahrhaben wollen.«
    »Wessen Schrift ist das?«, drängte Lydia, während Mildred aus ihrer Benommenheit schreckte und gefesselt zu ihm aufsah.
    »Meine«, sagte Horatio.
    »Nein!«, riefen Lydia und Esther gleichzeitig.
    Horatio nahm der wie versteinerten Mildred den Umschlag aus der Hand und betrachtete die Adresse, die darauf geschrieben stand. »Und das auch«, sagte er und warf den Brief auf den Tisch.
    Lydia packte ihn am Arm und zwang ihn zu sich herum. »Du bist verrückt, Liebling. Das ist die Schrift von einem, der nicht schreiben kann. Du bist, soweit ich weiß, ein anerkannter Wissenschaftler, der ständig Texte veröffentlicht. Von einem Packen Liebesbriefe, die wegzuwerfen ich mich nie durchringen konnte, ganz zu schweigen. Das ist nicht deine Schrift. Und jetzt Schluss.«
    »Ich konnte nicht schreiben«, sagte Horatio, als wäre er allein. »Mein Vater hat es mit mir geübt. Er hatte sich für meine Hände einen kürzeren Stock gekauft.«
    Ohne es zu wollen, ging Esther hin und starrte auf die Karte. So sah die Schrift aus – wie die eines ungeschickten Kindes, das zum Schreiben geprügelt wurde. Sie griff nach Horatios Hand, ehe ihr einfiel, dass er es nicht mochte, und sie ihn

Weitere Kostenlose Bücher