Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
Mildred?«
    Er fing sie auf. Sie war stehen geblieben und hatte den lärmenden Zug an sich vorbeiziehen lassen. Niemand bat sie, mitzukommen. Niemand vermisste sie. Hector Weaver versetzte ihr im Vorbeigehen wie einer Hure einen Klaps und war schon weitergezogen, ehe sie ihm die Augen hätte auskratzen können. Sie alle gingen auf ein Fest, auf das Mildred nicht geladen war. Nur er nicht. Victor März. Kraftlos ließ sie sich gegen ihn fallen. Wie er hierherkam, war gleichgültig. »Bringen Sie mich weg.«
    »Aber ja.« Er legte den Arm um sie und führte sie vom Pier und all dem Trubel fort. Es tat gut, nicht mehr denken müssen, nur noch stapfen, nicht mehr die Richtung bestimmen, nur noch willenlos folgen. Hinter der Festungsruine stieg er mit ihr über den Deichwall und ging in den Kieseln am Meer entlang weiter. Das Meer, das seit Tagen spiegelglatt gewesen war, begann sich zu kräuseln, dann sich zu bäumen und zu grollen. Victor schlang den Arm noch fester um Mildred. Wind zerrte an ihren Kleidern. Die Hitze, die wie ein Gewicht auf dem Land gelastet hatte, schlug in Kälte um, und der glasige Himmel verdüsterte sich.
    Finsternis und Kühle waren eine Erlösung. Das Gebrüll des Meeres schrie in Vertretung für Mildred den ungeheuren Schmerz heraus. Sie setzte sich in die Kiesel und schlang die Arme um die Knie. War Mittag vorüber, bedeutete das Dunkel, dass die Nacht nahte? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Aus schwarzen Wolken fuhr ein Blitz, und mit dem Donner schien der Himmel zu bersten. Der Regen kam hart und plötzlich wie der Weltuntergang.
    Victor packte sie an den Armen und riss sie auf die Füße. »Lauf«, schrie er, »lauf«, und rannte mit ihr los. Schon fiel der Regen so dicht, dass man keine Hand mehr vor Augen sah. Der Deichwall war im Nu durchweicht. Sich ans Gras klammernd, kämpften sie sich hinauf. Donnerschläge zerfetzten das Getrommel des Regens, der wie mit Peitschen in ihre Gesichter schlug. Über freies Feld, wo ein Blitz sie jederzeit treffen konnte, jagten sie auf den Stadtrand zu. Sooft sie strauchelte, fing er sie, sooft sie aufgeben und sich fallen lassen wollte, zerrte er sie weiter. »Du musst«, brüllte er gegen den tosenden Wind. »Ich lass dich nicht hier, Mildred. Ich lass dich nicht hier.«
    Mit schmerzenden Lungen erreichten sie die ersten Häuser, tauchten zwischen ihnen ein und drängten sich unter das erstbeste Vordach, um unter Röcheln nach Atem zu ringen. Ströme von Wasser rannen ihnen aus Haaren und Kleidern, und hinter ihnen stürzten Fluten zu Boden. Vielleicht wollte Gott noch einmal die Welt ertränken, die ganze misslungene, verdorbene Welt.
    »Ich muss dich ins Trockene bringen«, keuchte Victor.
    »Nicht nach Mount Othrys«, schrie Mildred zurück.
    »Nein.« Er strich ihr Wasser von der Wange, als würde das einen Unterschied machen. Dann zog er sein triefendes Jackett aus, knöpfte die Weste auf und breitete sie Mildred über den Kopf. Als die danach griff, fühlte sie, dass ihr Hut nur noch ein durchweichter Lumpen war. Kurz wartete Victor ab, als jedoch der Regen nicht nachließ, sondern stärker wurde, rief er »Jetzt« und rannte mit ihr los.
    Sie liefen durch ein Gewirr von Seitenstraßen, nur hin und wieder durch die Krone eines Baums geschützt. Bei einem Haus mit Vorgarten verlangsamte Victor seinen Lauf, drückte die Pforte auf und zog Mildred den Weg entlang zur Treppe. Das Haus war schmal, hoch und frisch geweißelt. Er riss die Tür auf und schob sie hinein. Die Wärme, die ihr entgegenschlug, war überwältigend.
    Der dunkle, stille Raum war die Empfangshalle eines Hotels. Wie durch Nebel bekam Mildred mit, dass Victor Schwierigkeiten hatte, ein Zimmer zu mieten. Man schien ihn zu kennen und glaubte ihm nicht, dass er verheiratet war. Seufzend zog er mehr Geld aus der Börse, erhielt endlich einen Schlüssel und trug eine Bitte vor. Noch einmal wechselte Geld den Besitzer, dann wandte er sich Mildred zu. »Komm, mein Herz. Gleich hast du es warm.«
    Mildred war nie zuvor in einem Hotelzimmer gewesen. Der Raum war in Grün- und Brauntönen eingerichtet, größer, als die enge Treppe vermuten ließ, und er strahlte Behaglichkeit aus. Es gab nur ein Bett, breit genug für drei. Victor wies darauf, und Mildred ließ sich fallen. Ihre Zähne klapperten. Vom Waschtisch holte er Tücher und rieb ihr das Haar, wie sie es Daphne gerieben hatte, wenn diese aus dem Regen heimgekommen war. »Es zündet gleich jemand den Kamin an«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher