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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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dass die Geburt voranging. An ihren erbärmlich dürren Beinen bis hinauf zu den Oberschenkeln zeichneten sich Spuren von Erfrierungen ab.
    Trotz der Eile wusch Hyperion sich sorgsam die Hände, ehe er die Frau untersuchte. Er brauchte nicht einmal ein Spekulum, um das Dilemma zu erkennen. Das Kind lag verkehrt herum, mit dem Steiß nach vorn. Auf dem Weg, den die Natur dafür vorgesehen hatte, würde die entkräftete Mutter es keinesfalls austreiben können, nicht einmal mit Hilfe der Zange. »Ich brauche den Operationssaal«, sagte er zu Vernon.
    »Sie wollen schneiden. Sind Sie sicher?«
    Hyperion wusste, was sein Doktorvater meinte. Bei einer Kaiserschnittoperation starben noch immer mehr als zwei Drittel der Frauen und ließen mutterlose Säuglinge zurück. Die Gebärende war ausgemergelt und verwahrlost, sie besaß gewiss keinen Menschen, der sich des Kindes hätte annehmen können. Mithin blieb für das arme Geschöpf nur ein Platz in der Hölle des Waisenhauses. Warum also sollte er sie der Tortur unterziehen? Es war eine Qual, eine junge Frau unter den Händen sterben zu sehen, er hatte Bilder genug im Kopf, die er nie vergaß. Aber an solche Einwände dachte man nicht in diesen Sekunden. Er sagte nur: »Ja.« Dann rannte er los, um Bescheid zu geben, denn der Saal musste noch einmal beheizt werden.
    Operiert wurde im Dachstuhl des Frauentrakts, was günstig war, wenn man durch die verglaste Decke das Tageslicht ausnutzen konnte. In der Januarnacht jedoch blieb nur flackerndes Gaslicht, das Wasser war lau und der Operationstisch aus Fichtenholz eiskalt. Auf den Rängen warteten trotz der nächtlichen Stunde Studenten. Einen so spät begonnenen Kaiserschnitt sah man selten, weil sich nicht oft ein Arzt an den aussichtslosen Eingriff wagte. Hyperion aber war Arzt geworden, um nie wieder vor dem Tod mit starren Händen zu stehen. Er nahm einem der Helfer den Kasten mit den Instrumenten ab, um sie zu waschen. Dass über seine Reinlichkeitsmanie Witze kursierten, wusste er. Von seinen Fingern schälte sich die Haut in Fetzen. Es machte ihm nichts aus.
    Über seinen Helden, Louis Pasteur, wurde ebenfalls gewitzelt, weil er Brühe kochte und in Flaschen verkorkte, um zu beweisen, dass nicht die Luft eine Substanz verdarb, sondern etwas in der Luft. Vor diesem Etwas konnte eine Waschung nur unzureichend schützen, doch andere Möglichkeiten gab es hier nicht. Pasteur hatte Hitze verwendet, das war beim Menschen nicht machbar. Wenn Pasteur aber recht hatte, starben Scharen von Patienten an dem, was Ärzte in ihre Wunden hineintrugen. Sie würden am Leben bleiben, sobald man herausfand, wie der Verunreinigung der Wunden beizukommen war.
    Hyperion streifte den Operationsmantel über, der nach Blut und Eiter stank. Vernon brachte die in Chloroform getränkten Tücher und legte sie der Frau, die nur noch hilflos zitterte, übers Gesicht. Seit die Königin das Betäubungsmittel unter der Geburt benutzt hatte, galt es zum Glück nicht länger als verwerflich. Der alte Arzt machte seine Sache gut, seine Hände waren sacht und geübt. Zum Schneiden aber besaßen sie nicht mehr die Sicherheit, für die er einst berühmt gewesen war. Männer wie Vernon hatten dazu beigetragen, dass die Welt aufhörte Chirurgen mit Metzgern zu vergleichen, doch seine Zeit war vorbei. Mit der Aufgabe, die vor ihm lag, war Hyperion allein.
    Die Frau, vom Chloroform benebelt, hatte endlich Frieden. Das Stethoskop verriet kräftige Herztöne – dem Kind ging es gut. Hoch auf dem aufgetriebenen Leib setzte Hyperion die Klinge an und zog sie mit Druck durch alle Schichten von Haut und Muskel bis hinunter auf die Scham. Die Gebärmutter zu öffnen, den neuen Menschen an Kopf und Schultern zu umfassen und ins Licht zu heben dauerte nur wenige Minuten, und doch war es unglaublicher als der Bau einer Kirche, die Überquerung des Meeres. Helfer standen bereit, um die Wunde zu klammern und Pflaster aufzulegen, während Hyperion das Neugeborene mit dem Schnitt durch die Nabelschnur von seiner Mutter trennte. Sobald die Pflegerin es übernommen hatte, brüllte das Kleine sich ins Leben.
    Was dann geschah, hätte er nur allzu gern jemandem erzählt. Nicht irgendwem, sondern der Frau, die er liebte. Er wollte von dem Wunsch erzählen, dem Kind die Mutter zu erhalten, und von der Erkenntnis, dass der Schnitt falsch gesetzt war. Wir sollten nicht längs, sondern quer schneiden und die Gebärmutterwände vernähen oder das Organ entfernen, durchzuckte es ihn.

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