Die Mondrose
Victor.
Der Hotelpage erschien mit einem Tablett, auf dem ein silbernes Teeservice arrangiert war. Victor stand auf, entnahm einem Tallboy einen Stoß Decken und legte sie über Mildred. Mit geübten Griffen entfachte der Page das Feuer. Mildred hörte es knistern und wäre gern nah herangekrochen, damit die Wärme sie in ihren durchnässten Kleidern erreichte. Als der Page gegangen war, entzündete Victor die Kerzen, zog die Vorhänge zu und schloss die Welt vor dem Fenster aus. »Mildred«, sagte er, »du musst aus diesen Sachen, oder dich holt der Tod.«
»Du holst dir den Tod«, verbesserte Mildred sein Englisch.
Victor schüttelte den Kopf. »Der Tod holt die Leute. Nicht andersherum. Du musst all das ausziehen, wir hängen es vor den Kamin, und in der Frühe ist es trocken. Ich gehe hinaus, wenn du willst. Wenn es dir lieber ist, gehe ich nach Hause.«
»Nein!«, rief sie schnell. Die Vorstellung, allein zu bleiben, die Bilder wiederzusehen und sich dem Kreisen der Gedanken auszuliefern, überstieg ihre Kraft. »Nein«, wiederholte sie und blickte zu ihm auf. Er wandte sich ab und schob den Funkenschutz vor den Kamin. Tapfer begann Mildred mit klammen Fingern am Stoff zu nesteln, sich die Kleider herunterzustreifen und sie zu Boden zu werfen. Sobald sie die trockene Decke auf der Haut spürte, wurde ihr wärmer. Victor wartete, dann sammelte er alles auf und glättete jedes Stück, ehe er es auf den Ständer vor das Feuer hängte.
Er nahm die Kanne und schenkte die Gläser voll. Die dampfende Flüssigkeit war nicht braun, sondern rot. »Heißer Wein«, sagte er, setzte sich zu ihr und hielt ihr beim Trinken das Glas. Sie schmeckte den Wein kaum. »Mach mich betrunken. Wie damals.«
»Aber ja.«
»So betrunken, dass ich alles vergesse.«
Er nickte. »Das liebe ich an Hotels. Du gehst hinein und kannst vergessen, wer du warst. Kannst dich neu erfinden. Damit machen Hotels ihr Geld, sie verkaufen uns Urlaub von uns selbst. Irgendwann wird diese ganze Küste eine Kette von Hotels sein, und eins davon wird mir gehören.« Sie hatte ihm kaum zugehört, jetzt aber horchte sie auf. Er schien ihre Verblüffung zu bemerken. »Ich weiß, ich bin ein Nichts. Doch ich werde kein Nichts bleiben. Ich spare Geld, ich schaffe mir Verbindungen. Eines Tages werde ich der reichste Mann der Vorstadt sein.«
»Du bist größenwahnsinnig.«
»Nein.« Er stellte Mildreds Glas ab und trank aus seinem eigenen. »Ich weiß nur, was ich will. So wie du. Daheim in Hamburg wollte ich etwas anderes. Ich war ein Schreinerlehrling mit einer ledigen Schwester, und ich wollte für ein bisschen Gerechtigkeit kämpfen. Nicht dafür, dass Arme reich werden, aber dafür, dass Leute wie meine Schwester und ich von meiner Arbeit hätten leben können. Dafür hab ich alles gegeben. Ich hab Lesen und Schreiben gelernt, um Flugblätter abzufassen. Ich wollte nichts als einen kleinen Fetzen Glück, aber die Reichen geben nicht mal solchen Fetzen her, und jetzt will ich keinen mehr. Jetzt will ich alles.«
Die Flammen der Kerzen warfen tanzende Schatten auf sein Gesicht. »Was ist passiert?«, fragte Mildred und wunderte sich über sich selbst.
»Das, was immer passiert. Wir sind auf die Straße gegangen, ohne Waffen, nur mit Worten, und sie sind über uns hergefallen und haben uns die Seele aus dem Leib gedroschen. Auch geschossen. Wen sie lebend erwischten, haben sie verhaftet.«
»Dich auch?«
Sein Schweigen war Antwort genug.
»Wie lange warst du im Gefängnis?«
»Nicht im Gefängnis«, sagte er. »Im Zuchthaus. In meinen Papieren stand, ich war drei Jahre dort, aber das ist nicht wahr. Ich war neunzehn, als sie mich einsperrten. Als ich rauskam, war ich hundert Jahre alt.«
»Und deine Schwester?«
Sein Gesicht wurde hart. »Sie haben sie mir weggenommen. Ich habe sie angefleht, sie mir wiederzugeben, aber einem Zuchthäusler, der nirgendwo Arbeit oder eine Bleibe bekommt, dem gibt man nicht mal Auskunft. Die, für die ich gekämpft habe, haben mir nicht geholfen. Also hab ich mir selbst geholfen. Es gab einen Aufruf, dass Wanderarbeiter für England gesucht werden. Da habe ich mir gedacht: Ich geh nach England und werde reich, und dann suche ich Annette. In diesen Hotels ist Zukunft, damit kann ein Mann ein Vermögen verdienen. Wenn ich nicht mehr März bin, der Zuchthäusler aus Altona, sondern March, der Hotelier aus Hampshire, müssen sie mir Annette wiedergeben.«
Während der letzten Worte schien ihm die Stimme zu bröckeln.
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