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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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In seiner Verzweiflung erkannte Mildred sich selbst, all die Nächte in Whitechapel, in denen sie vor Sorge um Daphne nicht hatte schlafen können. Sie setzte sich auf, nahm ihm das Glas ab und trank. Was für arme Tröpfe wir sind mit unseren Schwüren. Du hast deine Schwester nicht retten können, und meine Schwester hatte mich zur Rettung nicht nötig. Sie gab ihm das Glas zurück. »Wir werden mehr zu trinken brauchen«, sagte sie.
    Als die Kanne leer war, ging Victor und kaufte eine Halbliterflasche Brandy. Die leerten sie, ohne viel zu reden, und irgendwann fiel Mildred in Schlaf. Sie erwachte in völliger Dunkelheit, ihr war so kalt, dass sie unter dem Berg von Decken zitterte, und das Entsetzliche, das sie im Brandy ertränkt hatte, stürzte über sie her. Sie war allein auf der Welt. Irgendwo in der Wildnis, wo es keinen scherte, ob sie lebte oder starb. Vor der Leere, die sich vor ihr erstreckte, begann ihr Herz zu rasen. Sie schrie.
    Victor, der im Sessel gesessen hatte, schreckte beim ersten Laut in die Höhe. Mit einem Satz war er bei ihr und nahm sie in die Arme. »Ist ja gut, mein Kleines. Hast du schlecht geträumt?«
    Ich bin allein, wollte sie schreien, aber es war zu schrecklich, um es auszusprechen. Sie klammerte sich an ihm fest.
    »Musst dich nicht sorgen.« Er strich ihr übers Haar und wiegte sie in seinen Armen. Leise begann er ein Lied zu summen, dasselbe wie damals auf der Straße, das so ähnlich klang wie Mildreds Lied.
    Sie brach in Tränen aus, konnte sich nicht hindern. Er wiegte sie weiter, summte und streichelte sie, und sie weinte, bis sie nach Luft schnappen musste.

Kapitel 12
    Southsea bei Portsmouth, Januar 1862
    G uten Morgen, Doktor!« Die beiden Krankenschwestern winkten zu Hyperion herüber. Frisch und sauber wirkten sie in ihren dunkelblauen Trachten, wie sie mit emsigen Schritten auf das Bettenhaus zumarschierten, um wie üblich um sechs ihre Schicht zu beginnen. Das zumindest hatte sich zum Besseren gewendet. Erst wenige Jahre war es her, dass Florence Nightingale die ersten Schulen für Krankenpflege eröffnet hatte, und schon zeigten sich Fortschritte. Die unausgebildete, trunksüchtige Krankenschwester, die zu Hyperions Studienzeit gang und gäbe gewesen war, gehörte der Vergangenheit an. Das Grauen, das Florence Nightingale in den Feldlazaretten des Krimkriegs erlebt hatte, war zum Antrieb für Reformen geworden.
    Gedanken an den Krimkrieg versuchte Hyperion zu vermeiden. Schlimm genug war, dass die Schreckensbilder ihn in Träumen heimsuchten. Er wollte seiner Frau kein ewig bekümmertes Gesicht bieten, wie seine Großmutter es ihm bereits vorgeworfen hatte. »Dein Vater hielt von deiner Mutter alles fern, was ihre zarte Konstitution nicht vertrug«, hatte sie ihm in Erinnerung gerufen. »Du hingegen führst beim Essen Gespräche über aufgeschlitzte Leiber.« Sie hatte sich geschüttelt, dabei war sie zäh wie alte Binsen. Daphne hingegen hatte vor Tagen geweint, weil die Katze einen der Standvögel getötet hatte, die sie vor ihrem Fenster fütterte.
    Sie war sein Glück, sein Heimathafen, sie hatte Schonung verdient. Er würde ihr nichts aus dem Spital erzählen – nicht einmal das Gute, weil auch das Gute schlimm war, wenn man nicht wusste, wie viel Schlimmeres es gab. Wenn sie ihn fragte, warum er in der Nacht nicht heimgekommen war, würde er sagen, er hätte noch Arbeit gehabt. Sie würde sich begnügen, ihm die Stirn streichen und dann Priscilla rufen, damit sie ihm ein Bad wärmte.
    Von der Frau, die in der Nacht vor dem Bettenhaus eins gefunden worden war, würde er ihr nichts erzählen. Wie sie dorthin gekommen war, wusste kein Mensch, wahrscheinlich war jedoch, dass sie sich selbst so weit geschleppt hatte. Es gab in der Stadt keine Entbindungsanstalt, aber mehr als genug Frauen, die kein Bett hatten, in dem sie ihre Kinder gebären konnten.
    Die Frau war keine Engländerin. Sie trug einen Ring, doch von einem Ehemann fand sich in der eisigen Nacht keine Spur. Vernon hatte ebenfalls gerade aufbrechen wollen. Sie blieben beide und ließen die Frau in eins der Untersuchungszimmer tragen. Im ganzen Bettenhaus herrschte Lärm, es gab solche Nächte, in denen alles vor Schmerzen schrie und niemand Ruhe fand. Die Frau schrie nicht. Sie war zu schwach. Einzig eine geflüsterte Litanei in fremder Sprache kam von ihren Lippen, ein Gebet oder eine Beschwörung. Es sah aus, als würde sie sich schon seit geraumer Zeit durch die Wehen der Austreibung quälen, ohne

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