Die Mondrose
nirgendwo bewerben können. Ohne ein Zimmer mit Waschtisch konnte sie sich nicht sauber halten, sie konnte ihre Kleider nicht aufhängen, und innerhalb von Tagen würde man ihr ansehen, was sie jetzt war – eine von der Straße. Eine, die sich mit ehrlicher Arbeit nicht über Wasser halten konnte und der nichts zum Verkaufen blieb als das bisschen, was Hector Weaver von ihrer Jugend und ihrer Schönheit übriggelassen hatte.
Während sie ihre Tasche durch die Halle schleifte, folgten ihr Blicke, die wie Schläge brannten. All ihre Beherrschung brauchte sie, um aus der Tür zu treten, als ginge sie nur, um Nora aus dem Garten zu holen. Sie hatte sich eingebildet, es werde regnen, aber der Juniabend war makellos. Drei Schritte ging sie noch auf dem frisch gepflasterten Gehsteig entlang, dann blieb sie stehen, weil sie die Kräfte verließen und weil, wer kein Ziel hatte, schließlich nicht fröhlich drauflosstapfen konnte.
Ein Einspänner kam ihr entgegen, das Pferd im munteren, wie sie verhöhnenden Trab. Es war kein Hansom Cab, sondern eins jener kleinen Gefährte, die ihre Besitzer selbst fuhren, weil sie sich keinen Kutscher leisten konnten. Den Mann, der sich, sobald er sie sah, vom Bock herunterbeugte, erkannte sie sofort. »Guten Abend, Miss Ralph«, grüßte Victor März in seiner stillen, höflichen Art und zog die Zügel an. »Ist Mr Weaver drinnen? Ich bräuchte von ihm rasch zwei Unterschriften.«
»Ich arbeite nicht mehr für Mr Weaver«, murmelte Sukie tonlos. Sie hatte nur einen Blick auf ihn geworfen und starrte jetzt auf den Boden. Er sah gut aus. Einen neuen dunklen Anzug trug er und dazu eine Weste in gewagtem Rot. Offenbar war ihm der Aufstieg beschieden, den er sich redlich verdient hatte. Sie dagegen hatte nichts als Verachtung verdient.
»Miss Ralph?« In seiner Stimme schwang jenes Erstaunen, das sie vom ersten Tag an für ihn eingenommen hatte. Wenn es so etwas überhaupt gab, war er ein Mann ohne Arg. »Sie arbeiten nicht mehr bei Mr Weaver? Wie schade. Ich hoffe, es ergeht Ihnen in der neuen Stellung gut.«
»Ich hab keine neue Stellung«, murmelte Sukie mit dem Blick zum Boden, und dann erzählte sie ihm alles – dass sie hinausgeworfen worden war, dass sie keinen Ort hatte, an den sie gehen konnte. Was sie von ihm wollte, wusste sie nicht. Seine Hilfe? Ein Nachtquartier?
»Sie kommen zu mir«, sagte er. »Ich weiß, es ist nicht schicklich, aber ich habe ein großes Haus für mich allein, und tagsüber kommt die Aufwarterin. Sie müssen sich nicht fürchten.«
Um ein Haar hätte Sukie aufgelacht. Wenn er so weitermachte und sich das herrenlose Kroppzeug von der Straße auflas, würde er bald kein großes Haus mehr für sich allein haben. »Ich gehe nur schnell und spreche mit Mr Weaver«, sagte er und sprang vom Bock. »Wenn Sie wollen, steigen Sie schon auf. Ich beeile mich.«
Sukie sah ihm nach, wie er mit seinem Schlüssel das Tor öffnete und den Weg entlangrannte. So gut geschnitten sein Anzug auch sein mochte, an ihm wirkte Kleidung grundsätzlich, als würde sie den schönen Körper einengen. Dass sie solche Gedanken hegte, beschämte Sukie nicht länger. Das schamhafte Mädchen aus Havant gab es nicht mehr. Sie schulterte ihre Tasche. So sehr sie sich wünschte, sein Angebot anzunehmen, so wenig war sie in der Lage dazu. Von Victor März hatte sie sich anderes gewünscht als Mitleid. Ich bin in ihn verliebt, gestand sie sich jetzt, da die Erkenntnis keinen Sinn mehr hatte. Müde ging sie die sonnige Straße entlang, um außer Sicht zu sein, ehe er zurückkam. Lieber würde sie hungern, frieren und sich aufs Tiefste erniedrigen, als dem Mann, den sie liebte, eine Last zu sein.
Kapitel 18
Herbst
K ann ich Sie sprechen?« Mitten unter den hustenden, stöhnenden Patienten am Empfang hatte Louise Vernon gestanden, eine kleine, auf rührend altmodische Weise elegante Frau, die häufig hier auf ihren Mann gewartet hatte, Hyperion jetzt jedoch erschien wie aus einer anderen, verlorenen Welt. Er hatte sie seit dem Begräbnis nicht gesehen. Sie abzuweisen kam nicht in Frage, auch wenn er dem Zeitplan wie üblich hinterherhinkte. Kurzerhand übergab er Lawleigh die Verantwortung für den Empfang und ging mit ihr ins Büro des Klinikleiters, in dem die Präsenz ihres Mannes noch immer spürbar schien.
Kaum saß sie ihm gegenüber, öffnete sie ihre Handtasche, entnahm ihr ein Bündel Banknoten und legte sie vor ihn auf den Tisch. »Fahren Sie nach London«, sagte sie. »Fassen Sie
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