Die Mondrose
seinen Schmerz ertrug sie noch immer nicht. Wie ohne ihr Zutun schlossen sich ihre Arme um seinen Hals, strichen ihre Hände über das schweißnasse Haar in seinem Nacken. »Es ist ja gut«, murmelte sie. »Daphne wird nicht sterben.« Im nächsten Atemzug lagen ihre Lippen auf seinen.
Sie hatte ihn schon einmal geküsst, aber wie heute war es nicht gewesen. Damals hatte sie geglaubt, dass dem einen Kuss Hunderte, Tausende folgen würden, heute hingegen war ihr, als müsste sie in wilder Gier alles, was sie je gewollt hatte, nehmen, weil sie nie wieder etwas bekommen würde. Ihr Mund schnappte, ihre Hände klammerten, ihre Zähne gruben sich in seine Lippen. Und er küsste sie wieder. In ihrem Rausch bemerkte sie es erst, als sie einen Herzschlag lang Atem holte. Er küsste sie mit demselben Verlangen, demselben Hunger wie sie ihn.
Sich die Kleider herunterzureißen, all die Haken und Ösen, wurde zur Qual der überreizten Sinne. Als sie ihm die grauen, von zu vielem Bügeln glänzenden Hosen von den Hüften streifte, entfuhr ihr ein Laut. Er war kein Tier, auch wenn er sich wie eines in ihre Umarmung gestürzt hatte, auch wenn sie beide wie Tiere einander wollten. Im Licht der Wandarme schimmerte sein goldenes Fleisch. Seine Schönheit hatte mit Tieren nichts gemein, sie war über alles Widerliche erhaben und so wenig irdisch, dass sie ihr Begehren dämpfte. Aber das machte alles noch herrlicher. Es war Mildred, nicht Hyperion, die daran dachte, die Tür der Bibliothek zu verschließen, ehe sie in seine Arme zurückkehrte.
Sie liebten sich auf dem weichen Teppich vor dem Kanapee. Etwas war seltsam daran, dass ein so zarter, argloser Mann wie Hyperion einem so kraftvollen, gewieften Mädchen wie Mildred die Liebe beibringen und sie zur Frau machen sollte, und es fühlte sich nicht so an. Nur den Augenblick lang, in dem es weh tat, in dem sie spürte, wie Blut aus ihr herausschoss, weil etwas in ihr zerrissen war. Sie biss ihn in die Schulter. Er ächzte und seufzte, gab über ihr all seine Kraft aus und brach dann in ihren Armen zusammen. Alles Rauschhafte, Wilde war vorüber. Trotz des weichen Lichts glaubte Mildred jede Einzelheit des Raums überklar zu sehen, jede Einzelheit ihres Lebens zu begreifen. Sie hielt seinen makellosen Leib an ihrem, streichelte die schweißnasse, schimmernde Haut und das wirre Haar. Dass er weinen wollte, glaubte sie zu spüren, wusste aber, dass der Schmerz und die Schuld zum Weinen zu groß waren.
»O Mildred, Mildred, was haben wir getan?«
Mit einer zärtlichen Bewegung schloss sie ihm die Augen. O ja, was haben wir getan?, dachte sie. Und wir werden es wieder tun.
»Aber Sie können mich doch nicht auf die Straße setzen!« Sukie Ralph starrte ihren Dienstherrn an, als hätte er nicht in ihrer Sprache gesprochen. »Ich habe alles getan, wie Sie es wollten. Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Nichts«, erwiderte Hector Weaver mit jener süffisanten Gleichgültigkeit, vor der ihr schauderte. »Du warst ein braves Mädchen, Sukie, bist es immer gewesen.« Weit ausholend klatschte er ihr auf den Hintern. Wie so oft musste sie die Zähne zusammenbeißen, um nicht zurückzuschlagen, ihm nicht ins Gesicht zu schreien, was sie von ihm und seinen abscheulichen Gelüsten hielt.
»Aber warum wollen Sie, dass ich gehe?«, presste sie mühsam heraus.
»Weil dich hier niemand mehr braucht, Goldkind. Horatio soll von Männern erzogen werden, nicht von Weibern, und für Nora hat die gnädige Frau eine französische Gouvernante eingestellt. Wen wollen Sie da noch hüten? Die Hunde?« Er lachte auf.
Über die Dienste, die sie ihm erwiesen hatte, verlor er wie üblich kein Wort. Kein Wunder, war doch das, wonach es ihn verlangte, wenn er sich mit ihr in der Besenkammer einschloss, zu scheußlich, um es in Worte zu fassen. Ihr aber würde es auf ewig anhängen. Als unbeflecktes Mädchen hatte sie die Stellung in seinem Haus angetreten, und ihre einzige Schande war ihre Armut gewesen. Man hörte dergleichen Geschichten an jeder Straßenecke. Der reiche Dienstherr, der dem armen Mädchen Versprechungen machte, und das dumme Ding, das darauf hereinfiel. Auch Hector Weaver hatte ihr Versprechungen gemacht. Er würde sie als Lehrerin ausbilden lassen, ihr Geld für Sprachstunden geben, ihre Zukunft sichern. Hatte sie ihm geglaubt? Ich hatte doch keine Wahl, begehrte es in ihr auf. Wovon hätte ich denn leben sollen? Wovon sollte sie jetzt leben? Hector Weaver öffnete die Tür.
»Ich wäre
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