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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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wer das anzweifelte, dem brachte sie es bei. Der Einzige, der ihr noch die Stirn bot, war die alte Nell, und der wich sie aus.
    Sooft Mildred in Portsmouth etwas zu erledigen hatte, stahl sie ein paar Minuten, um in die Sankt-Thomas-Kathedrale zu gehen und zu beten. Hier, in der Erhabenheit jahrhundertealter Pracht, gelang ihr, was ihr anderswo inzwischen unmöglich war. Sie ging in die Knie und flehte die gesichtslose Macht an, Daphnes Leben zu erhalten, nicht Daphne zu strafen für Sünden, die Mildred begangen hatte. Aber welche Sünden? Nur hier, unter dem himmelhohen Dach, war sie fähig, um Vergebung für Dinge zu bitten, die sie nicht zu nennen wusste.
    Als sie an jenem Maiabend aus der Kathedrale kam, war der Himmel dabei, sich zu röten. Über der Stadt lag die sachte Stille, die sie in Whitechapel nie gekannt hatte, und die Welt erschien ihr so schön, dass es weh tat und dass sie zu wissen glaubte: Etwas musste geschehen sein. Sie hatte sich längst angewöhnt, im Herrensitz zu reiten, wann immer sie es eilig hatte. Über sie zerriss sich die gute Gesellschaft von Southsea ohnehin die Mäuler, weshalb ihnen also noch Zugeständnisse machen? Rücksichtslos trieb sie den Fuchs in Galopp und sprengte nach Hause.
    Unzählige Male hatte sie sich vorgestellt, wie sie durch das Tor eilte und Max, der ihr das Pferd abnahm, »Mein Beileid« murmelte, wie sie aufschrie und zusammenbrach. Als sie den Wagen des Spitals an der Straße stehen sah, war sie sicher, dies sei der Tag, an dem ihr schlimmster Alptraum wahr wurde. Ohne Max Gelegenheit zu geben, ihr das Unerträgliche mitzuteilen, stürmte sie ins Haus. Am Treppengeländer lehnte Priscilla und heulte. Mildred schrie auf und stürzte an ihr vorbei.
    Daphne war nicht gestorben. Sie war, weil das verfluchte Hausmädchen nicht aufgepasst hatte, aufgestanden, um mit Louis im Garten Ball zu spielen. Schwach, wie sie war, hatte sie den Halt verloren und war die Treppe hinuntergestürzt. Alle dreißig Stufen. Wer es ihr sagte, erfasste Mildred nicht. Sie rannte nach oben, riss die Tür auf und fand um das Bett geschart Sarah, Schwester Gladys, die sie wohl wieder einmal aus dem Spital geholt hatten, und einen der Ärzte, die sie des Öfteren bestellte. Vor dem Bett, über Daphne, kniete Hyperion.
    »Was machst du in diesem Zimmer!«, brüllte sie ihn an. »Verschwinde, rühr meine Schwester, die du auf dem Gewissen hast, nicht an!«
    Sie sprach so nicht zum ersten Mal mit ihm. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, und üblicherweise duckte er sich unter ihrer Stimme und tat, was sie von ihm verlangte. Heute aber richtete er sich auf und schrie zurück: »Beim Himmel, Mildred – ich bin Arzt!«
    Mildred war so überrumpelt, dass sie eine Weile nicht reagieren konnte, und diese Zeit machten Nell, Sarah, Priscilla und wer immer noch in diesem Haus ihre Feindin war sich zunutze und zerrten sie aus dem Raum. All ihr Wüten und Toben kam zu spät. Irgendwann, als ihre Kraft verbraucht war, sah sie ein, dass Priscilla, die auf sie einsprach, recht hatte. Sie schadete nur Daphne mit ihrem Geschrei. Geschlagen und vor Verzweiflung leer, schleppte sie sich hinunter in die Bibliothek.
    Priscilla hätte ihr nie unaufgefordert etwas zu trinken gebracht, wie sie es für alle anderen tat. Von Daphne abgesehen hatte sie im Haus nur Gegner, die sie lieber heute als morgen gehen sehen würden. Still saß sie an dem Tisch, an dem sie auf die Nachricht von Louis’ Geburt gewartet hatte, starrte vor sich hin und trank Port, den sie sich aus der Kammer geholt hatte. Sie war allein, wie sie ihr Leben lang allein gewesen war.
    Bis Hyperion kam.
    Die Tür öffnete er so leise, dass sie ihn erst hörte, als er sprach. »Es tut mir leid«, sagte er. Sie drehte sich um und sah in sein zu Tode erschöpftes, wie erloschenes Gesicht. »Es tut mir leid, Mildred. Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.«
    Mildred sprang auf. »Wie geht es ihr?«
    »Sie schläft jetzt«, sagte er. »Sie ist auf die Seite gestürzt und hat sich den Oberschenkelknochen gebrochen. Es wird lange dauern, bis sie wieder laufen kann, und sie hat solche Schmerzen.«
    Er schlug die Hände vors Gesicht. Mildred packte ihn bei den Gelenken und riss sie hinunter. »Aber sie wird nicht sterben?«
    Hyperion schüttelte den Kopf. Tränen strömten ihm über die Wangen. »Es tut mir so leid, Mildred. Es tut mir so leid.«
    Sie musste verrückt sein. Es gab auf der Welt kein Geschöpf, das ihr so verhasst war wie dieser Mann, doch

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