Die Mondrose
finde einen Ersatz«, erwiderte Louise ungerührt. »Und ich komme auch für Ihren Ausfall auf. Suchen Sie nicht nach Ausreden, Hyperion, Sie wissen, dass Sie fahren müssen. Um Fergus’ willen, um der Kranken und um Ihrer selbst willen – aber auch für Daphne und Ihre Kinder. Reisen Sie nach London und nutzen Sie die Zeit, sich über Ihr Leben klarzuwerden. Sie haben nicht verdient, dass man es Ihnen wegnimmt. Und Daphne und die Kinder haben das erst recht nicht verdient.«
Er kam früher als gewöhnlich nach Hause und fand Mount Othrys in Stille. Mildreds letzte Gäste waren abgereist, und das Kindermädchen hatte die kleine Esther schon zu Bett gebracht. Dennoch ging Hyperion an diesem Abend ins Kinderzimmer und küsste seine schlafende Tochter, die Daphne so ähnlich sah – blond und zu zart zum Leben. Louis, so erklärte ihm das Mädchen, habe den Morgen mit Mildred verbracht, doch am Nachmittag darauf bestanden, seine Mutter zu besuchen. Auf Zehenspitzen schlich sich Hyperion hinüber in das Schlafzimmer, das er für viel zu kurze Zeit mit Daphne geteilt hatte.
Die beiden Menschen, die er über alles liebte, lagen schlafend auf weißen Kissen, ihre Köpfe einander zugewandt, so dass die Stirnen sich berührten. Hyperion setzte sich auf den Bettrand und strich sachte erst seiner Frau, dann seinem Sohn das Haar aus den Gesichtern. Friedlich wirkten die beiden, so, als wären sie noch immer behütet, als wäre ihre Welt noch heil. Er wollte gehen, doch vermochte nicht, sich loszureißen. Als er sich endlich erhob, erwachte Daphne, schlug die Augen auf und sandte ihm ein Lächeln. Hyperions Herz zog sich zusammen.
»Liebling«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Zögernd setzte er sich wieder und spürte, wie ihre zarten, kühlen Finger ihm über die Wange strichen. »Es ist so schön, dass du da bist. Bleibst du bei uns? Du siehst müde aus.«
Er musste auch lächeln, nahm ihre Hand und küsste die Innenfläche. »Ich habe noch zu arbeiten, aber vorher wollte ich nach euch sehen. Hattet ihr einen guten Tag, Daphne? Wie geht es mit den Schmerzen?«
»Es war heute ein anderer Arzt da«, sagte Daphne. »Dr. Ackroyd, er war ganz wundervoll zu mir, und er hat gesagt, ich solle ruhig aufstehen und an den Krücken gehen üben, es werde mir nicht schaden. Im Gegenteil, durch das viele Liegen verlieren meine Muskeln die Kraft, und es wird immer schwieriger, das Bett zu verlassen.«
Was sie erzählte, klang überzeugend. Er kannte den jungen Ackroyd, der ein begabter Arzt war, und den Rat hätte auch er einem Patienten geben können. Aber Daphne war kein Patient. Sie war seine Frau, und dass sie das kleinste Risiko einging, durfte er nicht gestatten. »Ich weiß nicht, Daphne …«, murmelte er.
Sie lachte leise. »Aber ich weiß. Ich habe es ausprobiert, Liebster, und mir ist nichts geschehen. Stattdessen haben Louis und ich eine schöne Stunde verbracht, und er hat gesagt, er kann nicht warten, bis es wieder Sommer ist und seine kleine Mutter mit ihm über Priele springt.«
Vor seinem geistigen Auge tauchten Bilder aus dem Sommer vor der unseligen Geburt von Esther auf, von seiner Frau, die mit roten Wangen ins Haus stürmte, den kleinen Sohn an ihrer Seite, den sie aufhob und um ihre Achse wirbelte, als hätte er kein Gewicht. War es wirklich möglich, dass diese Zeit noch einmal wiederkam? Er sah in ihr abgezehrtes Gesicht, das der Tod schon mit seinen Händen umfangen hatte, und konnte es nicht glauben. »Du musst dich schonen, Liebstes«, bat er.
»Aber das tue ich doch!«, rief sie. »Ich tue den lieben langen Tag nichts anderes, und wohin hat es mich gebracht?«
»Du bist krank, Daphne.«
Das bisschen Glanz in ihren Augen erlosch. »Und weißt du, wie schwer es ist, ewig krank zu sein, während um dich dein Leben verstreicht?«
Hyperion betrachtete den schlafenden Jungen, die rosige Wange und den dichten Kranz der Wimpern. Das Bild rührte an eine Erinnerung, die so schmerzlich war, dass er sie abschütteln wollte. Er sah sich neben seiner Mutter liegen, obgleich die Großmutter es ihm verboten hatte, er sah seine kleine Hand, die mit den wirren Locken der Mutter spielte, und spürte noch einmal den innigen Wunsch, sie möge aufstehen und gesund sein, um jauchzend mit ihm in den Garten zu laufen. »Hyperion«, hörte er seine Frau flüstern, wandte den Kopf und sah, dass sie ihm die Arme entgegenstreckte. »Komm zu mir. Ich sehne mich so sehr nach dir.«
Er liebte sie. Er hatte nie eine
Weitere Kostenlose Bücher