Die Mondscheinbaeckerin
Behälter aus der Hand.
»Ich möchte dich während deiner Zeit hier nur um eines bitten, Emily«, erklärte er mit ernster Miene. »Halte dich von ihnen fern.«
»Meiner Ansicht nach ist das kein Geist. Da schleicht jemand herum, der etwas vorhat«, entgegnete sie.
»Glaub mir, hier hat niemand was vor.«
Obwohl durch ihre Mutter an hitzige Debatten gewöhnt, war Emily kein streitlustiger Mensch. Doch nun musste sie sich sehr zurückhalten, um Opa Vance nicht zu sagen, dass ihr die Sache mit dem Pflaster auf der Veranda sehr nach einem Plan aussah.
»Deine Mutter hat als kleines Mädchen genauso dreingeschaut wie du jetzt«, bemerkte er. »Sie war ein richtiger Sturkopf, meine Dulcie.« Er wandte den Blick ab, als hätte er zu viel verraten. Plötzlich war da wieder diese merkwürdige Unsicherheit.
Emily spielte mit den Maisküchlein auf ihrem Teller. »Warum willst du nicht über sie reden?«
Nach wie vor ohne ihr in die Augen zu sehen, antwortete er: »Ich weià nicht, wie ich das erklären soll.«
Emily nickte, obwohl sie nichts begriff. Vielleicht war seine Trauer wie alles an ihm übergroÃ. Vanceâ Beziehung zu seiner Tochter musste kompliziert gewesen sein. Die Beziehungen ihrer Mutter zu Menschen hatten sich samt und sonders komplex gestaltet, weil sie niemanden wirklich an sich heranlieÃ. Mit ihrem Temperament und ihrer Launenhaftigkeit war sie flüchtig gewesen wie der Duft von Parfüm. Um ein wenig davon zu erschnuppern, musste man Geduld haben. Und leider verflog er schnell wieder.
Emily würde ihn nicht drängen und versuchen, sich von seiner ausweichenden Art nicht verletzen zu lassen. SchlieÃlich hatte er sie bei sich aufgenommen, und dafür war sie dankbar. Sie würde sich bemühen, von Leuten im Ort etwas über ihre Mutter zu erfahren. Vielleicht gelang es ihr, andere Mitglieder von Sassafras ausfindig zu machen oder Win Coffey nach der Beziehung seines Onkels zu ihrer Mutter zu fragen. Er hatte ihr ja versprochen, ihr bei ihrem nächsten Treffen mehr über ihre gemeinsame Vergangenheit zu erzählen.
Emily freute sich schon auf Win.
Sie aÃen schweigend. Nach dem Essen schaute Opa Vance wieder in den Wäschetrockner, fand auch diesmal nichts darin und zog sich in sein Zimmer zurück. Emily hingegen ging nach oben und fegte weiter, bevor sie sich auf den Balkon setzte und auf die Lichter wartete.
So endete ihr zweiter Tag in Mullaby.
Später am Abend, als Vance sich aus seinem Zimmer schlich, um vor dem Schlafengehen ein letztes Mal in den Wäschetrockner zu schauen, blickte er die Treppe hinauf. Von oben hörte er keine Schritte und auch kein Fegen mehr. Emily lag wohl schon im Bett.
Merkwürdig, dachte er, wieder jemanden im Haus zu haben. Er hatte fast vergessen, wie das war. Emily veränderte die Luft, versetzte sie in Schwingungen, als würde irgendwo in der Nähe Musik gespielt, die er eher erspürte als hörte. Es erstaunte ihn, dass sie ihn zu ergänzen schien, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Gebraucht zu werden war so ähnlich, wie so groà zu sein â es wurde nur zum Problem, wenn andere Menschen da waren.
Vance hatte im Kindergarten alle überragt. Dort war ihm seine GröÃe zum ersten Mal bewusst geworden. Bis dahin war er, obwohl eindeutig hochgewachsen für sein Alter, das kleinste Mitglied seiner Familie gewesen. In der Schule neckten ihn die Kinder anfangs noch, doch irgendwann merkten sie, dass es keine gute Idee war, jemanden zu provozieren, der sie problemlos umpusten konnte.
Vance hatte als einziger Verbliebener der Shelbys das Familienvermögen geerbt. Er wusste, dass ihm dieses Erbe und der Name der Shelbys eigentlich nicht zustanden. Es hätte Geschwister geben müssen, die GroÃes leisteten, normale Kinder. Und eine Weile hatten die auch existiert. Aber seine ältere Schwester, für die die Tapete in ihrem Zimmer immer aus pinkfarbenen Bonbonringeln bestanden hatte, war mit sieben Jahren im Piney Woods Lake ertrunken und sein kleiner Bruder mit sechs bei einem Sturz aus dem Baumhaus im Garten gestorben. Danach hatten seine Eltern erfolglos versucht, weitere Kinder zu bekommen. Nur Vance war ihnen geblieben. Vance, der so groà war, dass er im See stehen und somit nicht darin ertrinken konnte. Vance, dessen Arme bis zu den Ãsten in den Bäumen reichten, so dass er niemals hinaufklettern
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