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Die Mondscheinbaeckerin

Die Mondscheinbaeckerin

Titel: Die Mondscheinbaeckerin
Autoren: Sarah Addison Allen
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musste und nicht herunterfallen konnte.
    Seine Eltern waren gestorben, als er etwas über zwanzig gewesen war. In ihren letzten Minuten hatte er geglaubt, Enttäuschung in ihren Gesichtern zu lesen. Ihr gesamtes Erbe würde an den Riesen gehen. Was sollte Vance damit anfangen?, hatten sie vermutlich gedacht. Er würde nie heiraten. Wer würde ihn schon wollen?
    Er war zweiunddreißig gewesen, hatte allein gelebt und sich kaum jemals aus dem Haus gewagt, als er Lily kennenlernte. Sie war mit den Sullivans am anderen Ende der Straße verwandt und eines Wochenendes von der State University zu Besuch bei ihnen. Wäre sie eine Farbe gewesen, hätte er sie als Leuchtend-Grün bezeichnet. Und sie hätte nach frischem Papier gerochen. Sie war selbstbewusst und intelligent und fürchtete sich vor nichts. Die Sullivan-Jungs, die als Mutprobe Bälle in den Garten des Riesen von Mullaby warfen, erzählten ihrer Cousine von Vance. Lily war entsetzt und zog sie an den Ohren die Stufen seiner Veranda hinauf, damit sie sich entschuldigten. Als Vance die Tür öffnete, war sie so verblüfft, dass sie die Jungen losließ, die sofort wegrannten. Weil Lily Stunden später immer noch nicht zu Hause war, erzählten sie ihrer Mutter, der Riese von Mullaby habe sie gefressen. Und als diese hinüberging, saßen Lily und Vance auf den Stufen zur vorderen Veranda und tranken lachend Eistee. Da die Mutter der Jungen ahnte, dass da etwas Wunderbares im Gange war, entfernte sie sich. Niemand hatte Vance je so zum Lachen gebracht.
    Nach Lilys Uniabschluss heirateten Vance und Lily, und Lily unterrichtete die zweite Klasse der Grundschule von Mullaby, bis sie mit Dulcie schwanger wurde. Es war eine glückliche Zeit. Lily lockte ihn aus dem Haus, ging mit ihm einkaufen, ins Kino oder zu Baseballspielen. Die Leute waren immer nur neugierig auf ihn gewesen, weil er sich verkroch. Sobald er sich ihnen zeigte, hatten die Bewohner von Mullaby keine Probleme mehr, ihn zu akzeptieren. In einem Ort voller Absonderlichkeiten war er nur eine von vielen Merkwürdigkeiten. Für diese Erkenntnis war Vance so dankbar, dass er Geld für Spielplätze, Kriegsdenkmäler und Stipendien spendete.
    Lilys Tod hätte ihn vor Kummer fast selbst ins Grab gebracht. Dulcie war damals zwölf. Es schien, als hätte sich eine Schneedecke über ihre Welt gelegt und alles erkalten und verstummen lassen. Nur Vance’ Erinnerung an Lilys leuchtend grüne Aura, ihre Lebensfreude und Intelligenz sowie ihr Urvertrauen, besonders in ihn, hielt ihn am Leben. Wie Dulcie das überstand, wusste er nicht. Und das bedauerte er.
    Vance glaubte, dass ein Mensch so etwas nur einmal überstehen konnte.
    Dann erfuhr er vom Tod seiner Tochter.
    Als Dulcies Freundin Merry ihm am Telefon mitteilte, dass Dulcie einen Autounfall gehabt habe, brachte Vance kein Wort heraus. Er legte auf und schlich zu Dulcies altem Zimmer hinauf. Eine ganze Woche lang war er nicht in der Lage, wieder hinunterzugehen. In der Zeit wurde die Tapete dort grau und feucht wie der Himmel bei einem Gewitter. Am liebsten wäre er selbst gestorben. Welchen Grund hatte er denn noch weiterzuleben? Er hatte alles, was ihn in dieser Welt verankerte, verloren.
    Als seine Nachbarin Julia ihn schließlich fand, hatte er so lange nichts gegessen, dass sie ihn stützen musste. Er verbrachte eine Woche im Krankenhaus, wo seine Beine über das Fußende des Betts hinausragten und sie drei Laken benötigten, um ihn zuzudecken.
    Bei seiner Heimkehr aus dem Krankenhaus waren mehrere Nachrichten von Merry auf dem Anrufbeantworter. Dulcie habe eine Tochter, teilte sie ihm mit, die eine Bleibe brauche. Merry selbst könne sie nicht bei sich aufnehmen, weil sie zurück nach Kanada gehe.
    Er hatte sein Leben lang nur reagiert. Seine Körpergröße machte ihn scheu, das war sein Grundproblem. Seine Eltern hatten ihm ein Vermögen hinterlassen. Seine Frau war zu ihm gekommen. Lily hatte sich immer um alles gekümmert. Und Dulcie war seit ihrem zwölften Lebensjahr im Wesentlichen auf sich gestellt gewesen. Jetzt musste er selbst die Initiative ergreifen.
    Bisher hatte er sich im Umgang mit Emily nicht allzu geschickt angestellt. Dulcie hatte Emily nichts über Mullaby erzählt, über das, was geschehen war, und Vance fürchtete, ihr etwas zu verraten, was Dulcie ihrer Tochter verheimlichen wollte. Bei ihrem Abschied hatte Dulcie ihm das
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