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Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Akkordeon mit sechsundneunzig Knöpfen – seit Jahrzehnten hatte niemand darauf gespielt; der Balg wies poröse Rillen auf. Emile behauptete, sein Parkinson erlaube es ihm nicht mehr. Ob sie vielleicht …?
    Als Emile den Balg öffnete, röchelte er; die Tasten weigerten sich, einen geraden Ton von sich zu geben.
    Sie hob das Akkordeon hoch, schlang die beiden Lederriemen um ihre Schultern, öffnete die Schnallen, die den Balg zusammenpressten, schob ihr linkes Handgelenk unter das Lederzugband und drückte den Luftknopf, der ihr erlaubte, den Balg ohne einen Ton auseinanderzuziehen. Das Instrument schien auszuatmen.
    Marianne drückte den Balg zusammen. Einatmen. Ein tiefes Einatmen von schwerer, gehaltvoller Luft. Ihr Ringfinger suchte und fand den einzigen rauhen, erhöhten Knopf zwischen den sechsundneunzig anderen am linken Manual – das C. Sie legte einen der fünf Kippschalter am rechten Klaviermanual um.
    Einatmen.
    Ganz sacht drückte sie auf das C. Jetzt musste sie den Balg nur noch einmal nach links ziehen, und … Sie traute sich nicht.
    »So«, knurrte Emile. »Man sagt, dass man den wahren Charakter einer Frau erkennt, wenn sie Musik macht. Die eine liest Noten wie ein Bild. Analytisch und kalt. Die andere gibt jedem Ton ein Gefühl. Und manche sind grausam, weil ihr einziger Geliebter die Musik ist. Nur ihr schenkt sie Wahrheit und Leidenschaft, Beherrschung und Kontrolle. Niemand anderer kommt ihr so nahe wie die Musik, wie das Instrument, das sie als Herrscherin ihrer Liebe benutzt. Wie spielen Sie das Akkordeon, wenn Sie es endlich mal spielen?«
    »Gar nicht. Mein Mann findet es zu laut und zu obszön.«
    Emile hustete kurz auf. »Wie bitte? Ihr Mann? Sie haben einen Mann?«
    Nur das leise Ticken der Standuhr war in der Küche zu hören.
    »Sie sind vor Ihrem Mann davongelaufen, nicht wahr?«, fragte Pascale dann.
    »Eher vor mir«, sagte Marianne, ihre Stimme war belegt.
    »Weiß … weiß Yann, dass Sie …«
    »Das geht uns nichts an«, unterbrach Emile seine Frau.
    »Haben Sie ihn nicht mehr geliebt?«, erkundigte sich Pascale behutsam.
    »Ich war einfach müde«, antwortete Marianne und schnallte das Akkordeon wieder ab.
    »Weiß er, dass Sie hier sind?«, wollte Emile wissen.
    Marianne schüttelte den Kopf.
    »Und das soll auch so bleiben, schätze ich«, stellte der Bretone fest.
    Sie nickte. Marianne schämte sich; sie fühlte sich wie eine Betrügerin. Eine Hochstaplerin.
    Emile Goichon rieb sich mit der rauhen, gesunden Hand über sein Gesicht. »Na, gut. Vergessen wir’s.«
    Dann winkte er Marianne wieder zur Garage.
    Die hellblaue Vespa stand anders da als zuvor; sie war geputzt, eingefettet, betankt. Emile hatte die Maschine in Gang gebracht.
    »Ist eine Fünfziger, einfach nur Gasgeben und Bremsen. Das Akkordeon ist zu schwer, um es durch den Wald zu schleppen. Ich leihe Ihnen das Ding, solange …« Er hielt inne. »Solange Sie wollen.«
    In der Küche tat Pascale so, als hätte sie tatsächlich vergessen, was sie soeben erfahren hatte. Und Marianne rang mit sich, sich ihr zu erklären.
    Mit einem Schlag war alles wieder da, was sie so gut verdrängt hatte: Lothar, das schlechte Gewissen, die Schuld, ihm ihre Gründe nicht zu beichten, die sie von ihm und ihrem Leben davongetrieben hatten.

    Nachdem im Ar Mor der letzte Gast gegangen war, verschwand Marianne ohne den üblichen kalva und die tägliche Sprachübungsstunde mit Jeanremy auf ihr Zimmer. Im Dunkeln starrte sie an die Decke und beobachtete den Mondschein. Sie schwang die Beine aus dem Bett. In ihrem Bauch hob sich etwas wie in einem zu schnell fallenden Lift.
    Sie streichelte das Akkordeon. Der Balg seufzte. Ein kleiner, schiefer Akkord. Sie lauschte. Das konnte nicht sein. Kein Akkordeon spielte von selbst. Das Mondlicht schimmerte auf dem Instrument.
    Zwei Uhr dreißig. Noch drei Stunden bis Sonnenaufgang.
    Marianne zog sich die Jeans über ihr Nachthemd und warf die flaschengrüne Lederjacke über; dann hob sie das Akkordeon hoch und schlich hinunter auf die Mole.
    Der Kater hatte sich auf dem Sitz der Vespa zusammengerollt und erhob sich sofort, als Marianne sich näherte. Seine Augen funkelten in der düsteren Nacht.
    Marianne schlang sich das Instrument über die Schultern. Es hing schwer an ihrem Rücken. Der Kater sah sie an.
    Er kann dich nichts fragen. Marianne schien, diese Katze vermochte es dennoch.
    Dann fuhr sie hinein in die Nacht. Kein Auto kam ihr entgegen, kein Radfahrer, nicht mal eine Möwe;

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