Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
passieren.
Erst als Laurine gegangen war, fiel ihm auf, dass er, während er sich zwischen Madame Gilberts Schenkel gewühlt hatte, gleich zwei Frauen verloren hatte. Laurine. Und Marianne.
Jeanremy ging ins Kühlhaus, verschloss die Tür fest hinter sich und fluchte, bis er weinte, und er spuckte die zornigen Tränen auf die Briefe, die er an Laurine geschrieben, aber nie abgeschickt hatte.
33
S ie stolperte vier Kilometer über die Straße, bis sie wahrnahm, dass sie nicht Richtung Meer geflüchtet war. Sie stand an der Kreuzung, an der es rechts nach Pont-Aven, links nach Concarneau ging. Marianne setzte den Koffer ab, ließ sich auf ihm nieder und stützte die Hände auf. Sie konnte kaum atmen vor Schmerz. Sie hielt schwach den Daumen hoch. Das internationale Zeichen der Flüchtenden, Einsamen, jener, die es nicht mehr ertragen können, auf der Stelle zu treten.
Niemand hielt. Manche hupten. Zitternd hielt Marianne den Daumen weiter in die leere Luft.
Ein gelber Kangoo hielt schließlich neben ihr. Eine blonde Frau mit kinnlangen Locken machte Marianne von innen die Tür auf. Marianne forschte in ihrem Gesicht, ob diese nur angehalten hatte, weil sie Marianne erkannt hatte.
Die Frau stellte sich als Adela Brelivet aus Concarneau vor. »Je m’appelle …«, begann Marianne und hielt inne. Gesucht wurde Marianne Messmann. Die war sie also schon mal nicht. Außerdem irritierte sie das Lächeln der Frau; sie zeigte Zähne, aber ihre Augen blieben kühl.
»Je m’appelle Maïwenn.«
»Ah! Maïwenn? Interessanter Name. Setzt sich zusammen aus Marie und Weiß. Weiße Maria?«, plauderte Adela weiter. »Adela hat auch eine Bedeutung, ich verrat’s Ihnen: Es heißt Liebe.« Adela lachte kreischend.
Die ganzen zwanzig Minuten redete sie, während an Marianne die Landschaft vorbeiflog, die kleinen Orte, die Kreisel, die rot-weißen Ortsschilder. Tränen rannen ihr unaufhörlich die Wangen herab.
Yann. Yann! Es tat so weh, als ob man ihre Brust amputiert hätte, ohne Betäubung.
Adela plapperte, während Marianne lautlose Tränen weinte.
Endlich. Concarneau.
Als sie an der Ampel am Marktplatz vor Les Halles hielten, beugte sich Adela zu Marianne herüber, machte ihr wieder die Tür auf und wünschte ihr noch eine gute Reise. Es hörte sich höhnisch an. Marianne stieg aus, zerrte den Koffer hervor, und der gelbe Kangoo brauste davon.
Marianne drehte sich einmal um sich selbst.
Wohin? Wo soll ich denn nur hin?!
Marianne beobachtete einen Schwarm Raben, der vom Atlantik landeinwärts flog. Zeichen hatte Pascale sie genannt. Marianne folgte dem Schwarm.
Sie schritt erst auf den Markt zu, der Koffer wurde zunehmend schwerer. Als Marianne ans Ende des Marktplatzes kam und dem Vogelflug folgte, erreichte sie erst das Marinarium, dann die Hafenmauer und sah unvermittelt vor sich den Atlantik. Graublau, glitzernd, weit.
Die Wolken, die über dem Land schwebten, wagten sich nicht über den Uferkamm hinaus. Wie eine unsichtbare Mauer, die den Himmel entzweischnitt, in ein erhabenes, tiefes Blau und in einen Landhimmel, gespickt mit weißen Hauben.
Zwei Welten.
In Mariannes Kopf überlagerten sich das sanfte Rauschen der Wellen und das unstete Fluchtklopfen ihres Herzens. Nach fünfzig Metern stieß sie auf die alte Kirche, kompakt, wuchtig, das Salzwasser hatte an dem dicken Sandstein genagt.
Vor dem schmucklosen Portal stand ein Schild: Priest available. Theologischer Bereitschaftsdienst. Und neben der Kirche eine Telefonzelle. Sie betrat die Zelle, suchte ein paar Kleingeldmünzen heraus, steckte sie in den Schlitz und wählte die Nummer eines Hauses am Ende einer Sackgasse in Celle. Es pfiff in der Leitung, als ob der Wind durchbrauste, dann veränderte sich der Ton, und es klingelte. Einmal. Zweimal. Nach dem dritten Klingeln hob Lothar ab.
»Messmann!«
Marianne schlug die Hand vor den Mund. Seine Stimme war so nah!
»Hallo? Messmann!«
Die digitale Anzeige des Gebührenguthabens blinkte, alle zehn Sekunden zehn Cent weniger.
Was sollte sie bloß sagen?
»Nun antworten Sie doch!«
In Mariannes Kopf war es leer.
»Marianne? Anni, bist du das?«
Es gab nicht ein Wort, das sie ihrem Mann sagen wollte.
»Marianne! Mach jetzt keinen Fehler! Sag mir sofort, wo du bist! Ich kann das sehen auf dem Display … Ist das Frankreich? Bist du noch in …«
Sie legte den Hörer hastig auf und verließ die Zelle. Dabei wischte sie sich immer wieder die Hand an ihrem Mantel ab, als müsste sie unsichtbare
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