Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Dreckspuren abstreifen.
Marianne betrat die Kirche, die Kühle im Inneren des Sandsteinbaus trocknete ihren Schweiß. Schlichte blanke Holzbänke, ein silbernes Kreuz über dem Altar, ein Schiffsmodell in einer Ecke.
Vorsichtig trat sie zu der Beichtkammer neben der Sakristei; sie glich einem wurmstichigen Schrank mit drei Türen.
»Hallo?«, flüsterte sie.
»Allo«, flüsterte eine tiefe Stimme aus dem Inneren des Schranks zurück.
Sie öffnete die linke Tür, sah einen Schemel, eine Kniebank mit violetten Samtkissen, trat ein und schloss die Tür.
Sie atmete auf.
Auf der anderen Seite des feinmaschigen Eisengitters erschien schemenhaft ein Gesicht, weiß und blass über einem schwarzen Kragen schwebend. Riesige dunkle Nasenlöcher.
Beruhigendes Gemurmel.
Sie lehnte sich zurück. Hier fühlte sie sich sicher. Vor den Fragen. Vor den Antworten.
Wieso war sie vor Yann davongelaufen?
Wo sollte sie hin?
Warum war sie immer noch nicht tot?
»Ich wollte mich umbringen«, begann sie leise.
Auf der anderen Seite des Gitters blieb es still.
»Verdammt! Ich habe alles falsch gemacht! Ich wollte doch …«
Ja, was wollte ich nur?
Ich will doch nur leben. Einfach nur leben. Ohne Angst. Ohne Bedauern. Ich will Freunde. Ich will Liebe. Ich will etwas tun, ich will arbeiten. Ich will lachen. Ich will singen. Ich will …
»Ich will leben. Ich will leben!«, wiederholte Marianne laut.
Auf der anderen Seite des Gitters waren die weißen Stellen in den Augen des Priesters noch strahlender geworden.
»Verstehen Sie – ich hab einen Mann, den ich nicht mehr ertrage. Ich hatte ein Leben, das ich nicht mehr ertrage. Aber ich will kein Ende mehr«, flüsterte Marianne. »Das ist … zu einfach.«
Sechzig. Das war noch lange nicht zu spät – niemals ist es zu spät, dachte sie, niemals, nicht mal eine Stunde vor dem Nichts ist es das.
»Ich will mich endlich auch mal betrinken!«, knurrte Marianne nun lauter. »Ich will rote Unterwäsche tragen! Ich will Familie. Ich will Akkordeon spielen. Ich will mein eigenes Zimmer und mein eigenes Bett! Ich hab’s so satt, mir anzuhören: Das macht man nicht, was sollen die Leute denken, man kann nicht alles haben, Träume sind Schäume. Verrückt? Mein Mann hält mich für verrückt, im Fernsehen hat er es sagen lassen! Ich hab mich so geschämt. Und ich hab ihn dafür gehasst, dass ich mich geschämt habe.
Und ich will mit Yann schlafen! Wissen Sie, wie lang mein letzter Orgasmus her war, bevor ich gestern Nacht und heute Mittag endlich mal wieder einen hatte? Nein? Ich auch nicht! So lange! Ich will einen Mann, der sich dafür interessiert, wie ich mich fühle! Ich will Lust und Yann und Hummer mit den Fingern essen!« Sie stand auf und stieß sich den Kopf. »Und ich will gar nicht weg von Kerdruc. So.«
O nein. Ich werde von Kerdruc nicht freiwillig weggehen. Sie werden mich einfangen, fesseln und wegtragen müssen.
Sie ließ sich auf den Schemel zurückfallen. Dann sprach sie in die Richtung des Priesters. »Danke. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Gern geschehen, Madame«, sagte der Mann leise. Auf Deutsch.
Marianne sprang erschrocken auf und flüchtete aus dem Schrank, und der Pater mit ihr. Er war kein Pater, sondern ein Mann mit schwarzem Rollkragenpullover, dicken Brillengläsern, blondem dünnem Haar und einem Notizbuch in der Hand.
»Ich wohne die Hälfte des Jahres draußen in Cabellou. Ich komme aus Hamburg und bin Schriftsteller. Tut mir leid, dass ich nicht gleich … Aber ich war selber überrascht, als Sie sich einfach hinsetzten. Und dann waren Sie so in Fahrt und … meine Güte, was Sie gesagt haben, kann sich ja kein Mensch ausdenken!«
Marianne starrte ihn an. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Es ist ja wahr.«
»Ich frage mich, ob meine Frau das manchmal auch denkt. Dass ich mich zu wenig interessiere für das, was sie fühlt. Denken Sie, dass wir Männer Frauen zu wenig als Frauen achten?«
»Haben Sie ein Auto?«, fragte sie stattdessen.
Der Schriftsteller nickte.
»Könnten Sie mich nach Kerdruc fahren?«
34
I hr Zimmer war bei ihrer Rückkehr aus Concarneau noch so gewesen, wie sie es verlassen hatte: das Bett unordentlich, der Schrank geöffnet, Rosen in der Vase.
Das Einzige, was fehlte, war Yann. Der Abdruck seines Kopfes war noch im Kopfkissen zu sehen.
Der Ausblick aus ihrem Fenster über die Mole von Kerdruc, über die alten chaumières und die bunten Boote, das wiegende Wasser bis zum Meer, war wie beim allerersten
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