Die Moralisten
Fennellis Zustand
- so sagten heute die Ärzte im Roosevelt-Krankenhaus - ist ernst, aber nicht kritisch. Dem Kodex des Bandenwesens treu, weigert sich Fennelli, eine Aussage zu machen. »Ich habe keine Ahnung, wer den Wunsch hat, mich zu erschießen«, erklärte er. »Ich gehöre zu den Leuten, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Die Polizei befaßt sich eingehend mit dem Fall und erwartet in Kürze neue Entwicklungen.
Ich legte die Zeitung aus der Hand. In dem Ausspruch Fennellis glaubte ich eine Warnung an mich zu erkennen die Warnung, mich ebenfalls um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Ich frühstückte und ging dann in die Kirche, um meinen Ministrantendienst zu tun.
Nachdem eine Woche verstrichen war, ohne daß in dieser Sache etwas passierte, fühlte ich mich wieder sicher. In der Zeitung hatte ich gelesen, daß es Fennelli besser ging und daß er in drei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen würde. Keoughs Billardsaal war geschlossen und meine Arbeit damit zu Ende, aber irgendwie machte ich mir nichts daraus. Das gefundene Geld legte ich auf einem neuen Konto an. Ich hatte Julie ein paarmal in dieser Woche gesehen, aber wir redeten nicht über das, was passiert war.
Eines Morgens steckte Bruder Bernhard den Kopf zur Tür des Schlafsaals herein und sagte: »Francis, willst du bitte nach dem Frühstück in mein Büro kommen?«
»Ja, Sir«, sagte ich.
In seinem Büro waren die Schwester Oberin, Pater Quinn und ein Fremder, der wie ein Polyp aussah.
Ich war beunruhigt, aber ich bemühte mich, es nicht zu zeigen. Ich wandte mich an Bruder Bernhard: »Sie wollten mich sprechen, Sir?«
»Ja, Francis«, sagte er. »Das ist Prüfer Buchalter von der Kinderfürsorge.« Dann wandte er sich an Mr. Buchalter: »Das ist der Junge.«
Ich wartete darauf, daß einer etwas sagte. Aber eine Weile herrschte gespanntes Schweigen im Raum.
Schließlich sagte die Schwester Oberin: »Francis, kannst du dich gar nicht mehr an deine Eltern erinnern?«
Diese Frage erschien mir töricht. Sie wußte genausogut wie ich, daß ich hier war, solange ich zurückdenken konnte. Aber ich antwortete höflich: »Nein, Ma'am.«
»Nun«, sagte sie, »Mr. Buchalter stellt Nachforschungen über
die Eltern aller Kinder an. Von Zeit zu Zeit überprüft er ihre Geschichte, weil er mehr über sie erfahren und ihnen helfen möchte. Und er hat dir etwas zu sagen.« Bei diesen Worten sah sie ihn an.
Mr. Buchalter war es anscheinend sehr unbehaglich zumute. »Siehst du, Francis, als du die Waisenhausschule absolviertest, wurde dein Fall erneut überprüft.« Seine Stimme klang, als ob er sich entschuldigen wollte. »Wenn ein Kind auf die Oberschule kommt, überprüfen wir seine Geschichte noch einmal, um zu sehen, ob nicht doch irgenwelche Verwandte existieren. Nun, um es kurz zu machen: Wir haben einen Verwandten von dir entdeckt, einen Onkel, einen Bruder deiner Mutter. Vor einiger Zeit schrieb er uns von seiner Schwester, die um die Zeit, als du geboren wurdest, nach New York gekommen sein muß. Sie starb zu der Zeit, als wir dich fanden. Er erkannte auch einen Ring, den sie getragen hatte und den wir bei unseren Akten aufbewahren, um ihn dir bei deiner Volljährigkeit zu geben. Es ist kein wertvoller, aber ein ungewöhnlicher Ring, und die Beschreibung, die uns dein Onkel gab, paßte genau auf ihn. Jetzt möchte dein Onkel dich adoptieren. Wir haben festgestellt, daß er ein guter, verantwortungsbewußter Mann ist und zwei eigene Kinder hat. Er wird dir ein schönes Zuhause bieten und für dich sorgen.«
Mr. Buchalter hielt inne.
Pater Quinn sagte: »Aber er ist anders als wir, Francis. Er hat nicht dieselbe Religion wie wir.« Seine Stimme war ganz ruhig und ernst. »Er ist nicht vom Glauben.«
Fragend blickte ich Pater Quinn an. »Nicht vom Glauben?« wiederholte ich und überlegte, was das bedeuten könnte.
»Ja, Francis«, sagte er bedrückt. »Er ist nicht katholisch.«
Ich wußte gar nicht, wovon er eigentlich redete.
»Es ist sehr wahrscheinlich, Francis«, sagte Bruder Bernhard, »daß du in Kürze bei ihm wohnen wirst, sobald gewisse
Formalitäten erledigt sind. Aber vergiß nicht alles, was du hier bei uns gelernt hast, Francis. Vergiß niemals die Kirche, die dir ein Obdach gewährt und dich aufgezogen hat. Bleib immer ein guter Katholik, ganz gleich, was die Leute sagen.«
»Ja, Bruder Bernhard«, sagte ich, noch verwirrter als vorher.
»Dein Onkel wartet draußen, Francis. Möchtest du ihn
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