Die Moralisten
Gedanken mündeten in dem einen Wort - Julie, Julie, Julie.
Ich schrieb Jerry, daß ich adoptiert sei, und er schrieb, daß ihn das sehr freue. Die Woche verstrich, und endlich kam der Tag, an dem ich das Waisenhaus verlassen sollte. Am Nachmittag sollte mein Onkel kommen, um mich abzuholen. Ich hatte meine
Sachen in Pappkartons gepackt und in das Büro des Verwalters gebracht.
Jetzt stand ich auf den Treppenstufen der Turnhalle und blickte mich um. Ein paar Kinder spielten auf der anderen Seite der Halle Basketball, unter ihnen auch Peter Sanpero. Ich beschloß, mich von ihm zu verabschieden und ihm zu sagen, wir wollten unsere Auseinandersetzungen vergessen. Die Gruppe wurde auf einmal still, als ich näher kam. Ich spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Ein prickelndes Gefühl lief mir den Rücken hinab. Ich blieb vor Pete stehen und streckte ihm die Hand entgegen.
»Willst du nicht vergessen, was vorgefallen ist, Pete?« fragte ich.
Er schaute mich an, ohne meine Hand zu beachten. Dann kam er einen Schritt auf mich zu. »Sicher werde ich's vergessen«, sagte er und versetzt mir einen Kinnhaken, daß ich Hals über Kopf zu Boden flog. Mehrere Hände hielten mich fest. Ich konnte mich nicht rühren. Anfangs war ich auch zu überrascht, um es zu versuchen. Pete stand über mir.
»Du jüdischer Hurensohn«, fauchte er, »was fällt dir ein, dich in unsere Schule einzuschleichen und niemandem etwas davon zu sagen!« Er trat mich in die Seite. Ich spürte einen stechenden Schmerz. Dann beugte er sich herunter und schlug mich ins Gesicht. Es gelang mir, eine Hand freizubekommen und mich in seinem Hemd festzukrallen. Er richtete sich auf, und da ich sein Hemd nicht losließ, riß er mich mit in die Höhe. Dadurch bekam ich auch meine andere Hand frei, und jetzt umklammerte ich seinen Hals mit beiden Händen. Er stand mit dem Rücken an der Wand. Zum erstenmal in meinem Leben kämpfte ich ohne Überlegung. Der Haß gegen Pete machte mich fast wahnsinnig. Ich preßte seinen Hals zusammen. Dann begann ich, systematisch seinen Kopf gegen die Wand zu rammen. Seine Fäuste bearbeiteten meine Magengegend. Das Blut strömte mir aus Nase und Mund. Die anderen Jungen sprangen mir auf den
Rücken und im nächsten Augenblick wälzten wir uns alle auf dem Boden, ich spürte, wie meine Jacke zerriß, aber es war mir gleichgültig. Ich hatte nur einen Gedanken: ich wollte Pete töten. Ich stieß seinen Kopf auf den Zementboden. Plötzlich ergriffen mich starke Hände bei den Schultern und rissen mich von Pete los. Auf einmal herrschte Totenstille. Bruder Bernhard hielt mich fest, so daß ich mich nicht rühren konnte. Pete lag immer noch am Boden.
Bruder Bernhard stand da mit strenger Miene und zornig blitzenden Augen. »Wer hat angefangen?« fragte er.
Einer der Jüngeren meldete sich mit piepsender Stimme: »Peter sagte, es sei Zeit, daß einer diesem schmutzigen Juden einen Denkzettel gebe.«
Ohne den Griff an meiner Schulter zu lockern, sagte Bruder Bernhard: »Geht auf eure Schlafsäle.« Und zu Peter: »Geh nach Hause und laß dich nie wieder in dieser Turnhalle blicken. Sie ist nur für solche, die hier wohnen.«
Erst als der letzte die Halle verlassen hatte, ließ Bruder Bernhard meine Schulter los. Er sah mich an, und sein Gesicht wurde wieder weicher. »Trag es ihnen nicht nach«, sagte er. »Sie müssen noch viel lernen.«
Ich keuchte, das Blut lief mir aus der Nase, und meine Seite schmerzte heftig.
»Wasch dich erst mal«, sagte er. »Dein Onkel wartet, und du kannst dich nicht mehr umziehen, denn es ist schon alles gepackt.«
Ich ging in den Waschraum und wusch mir das Gesicht. Bruder Bernhard stand schweigend hinter mir und reichte mir Papierhandtücher. Schweigend gingen wir nach oben in das Büro des Verwalters.
Mein Onkel wartete dort. Eine Frau war bei ihm, die wohl meine Tante war. Ich muß einen ziemlich erschreckenden Eindruck gemacht haben, als ich mit meinen zerfetzten und blutbespritzten Kleidern zur Tür hereinkam. Die Frau wurde blaß. Heftige Schmerzen schossen mir durch Brust und Seite. Es rauschte in meinen Ohren.
Ich versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang mir nicht. Sie schienen in Tränen zu schwimmen. Nach stundenlangen Versuchen brachte ich es endlich fertig. Ich lag in einem weißen Zimmer. Meine Tante, mein Onkel und Bruder Bernhard beugten sich über mich. Mit einem flüchtigen Blick sah ich, wie eine Schwester das Zimmer verließ. Ich überlegte, was eine
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