Die Moralisten
Krankenschwester hier zu suchen habe. Ich versuchte zu sprechen.
Doch Bruder Bernhard legte mir den Finger auf die Lippen. »Still, Junge, nicht reden. Du bist im Roosevelt-Krankenhaus. Mit drei gebrochenen Rippen. Du mußt ganz still liegen.«
Ich ließ meinen Kopf in die Kissen zurückfallen. Auf einem Kalender an der Wand stand in großen Buchstaben: >1.September 1925.<
Es war mein letzter Tag im Waisenhaus von St. Therese.
ZWEITER TEIL
Während der nächsten Tage im Krankenhaus erfuhr ich eine ganze Menge über meinen Onkel und seine Familie. Er war Vertreter für ein Bekleidungsgeschäft im unteren Teil von Manhattan, und sie wohnten schon seit zehn Jahren in New York. Sie hatten eine recht komfortable Fünf-Zimmer-Wohnung in Washington Heights.
Meine Tante war eine ruhige, sanfte Frau, die ich vom ersten Augenblick geradezu verehrte. Sie kam jeden Tag ins Krankenhaus und brachte immer irgend etwas mit: Obst oder Kekse oder ein Buch, damit ich mir die Zeit vertreiben konnte. Sie blieb immer so lange, wie sie konnte. Manchmal kam sie auch mit meinen Kusinen - zwei kleinen Mädchen im Alter von acht und zehn Jahren.
Im Anfang betrachteten sie mich ein wenig ängstlich mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Schüchternheit. Später, als sie sich an mich gewöhnt hatten, drückten sie mir jedesmal einen Kuß auf die Wange, wenn sie kamen und gingen.
Morris und Bertha Cain und ihre Kinder Esther und Irene waren für mich die erste Familie, zu der ich gehörte. Familienbeziehungen, die den meisten Leuten ganz normal erscheinen, waren für mich ungewohnt kompliziert. Ich konnte nie herausfinden, wer wessen Vetter oder Kusine war, und Vettern ersten und zweiten Grades waren für mich böhmische Dörfer. Aber wir kamen ganz gut zurecht.
Ende September verließ ich das Krankenhaus und trat in eine neue Welt ein. Onkel Morris hatte einen kleinen Buick, mit dem er mich nach Hause fuhr. Er hatte mich allein abgeholt. Als wir in der Wohnung ankamen, stellte ich fest, daß man ein kleines Fest für mich arrangiert hatte. Tante Bertha hatte Kuchen gebacken, und ich lernte viele andere Verwandte von uns
kennen. Als sie gegangen waren, zeigte man mir das Zimmer, das ich haben sollte. Es war Irenes Zimmer gewesen (sie war die Ältere der beiden), aber sie teilte jetzt ein Zimmer mit Esther, oder Essie, wie sie genannt wurde. Meine Sachen hingen bereits im Schrank, und der Raum erschien mir sehr warm und freundlich.
Das erste, was ich bemerkte, war das kleine, gerahmte Bild einer jungen Frau auf der Kommode.
»Das ist deine Mutter«, sagte Tante Bertha. »Es ist das einzige Bild, das wir von ihr besitzen, und ich habe mir gedacht, daß du es vielleicht gern haben möchtest.«
Auf dem Bild war meine Mutter etwa neunzehn Jahre alt. Sie trug das Haar in einem Knoten, wie es damals modern war. Ein leichtes Lächeln lag um ihre Lippen, und der Widerschein eines heimlichen Lachens schien in ihren Augen zu tanzen. Ihr Kinn war fest und rund, aber energisch - zu energisch vielleicht im Verhältnis zu ihren Augen und Lippen. Ich betrachtete das Bild eine ganze Weile.
Onkel Morris meinte: »Du siehst ihr sehr ähnlich, Frankie.« Er trat an die Kommode, nahm das Bild in die Hand, betrachtete es und stellte es dann wieder hin. »Möchtest du gern etwas über sie hören?« fragte er.
Ich nickte.
»Du kannst dich ja schon ausziehen«, sagte er, »und wir unterhalten uns inzwischen.«
Tante Bertha öffnete eine Schublade der Kommode und nahm einen neuen Pyjama heraus. »Wir haben uns gedacht, daß du ein paar neue Sachen gut gebrauchen kannst«, sagte sie lächelnd.
»Vielen Dank«, sagte ich und hatte ein seltsames Gefühl. Ich mußte erst noch lernen, ein Geschenk anzunehmen.
»Du brauchst dich deiner Mutter nie zu schämen, Frankie«, sagte mein Onkel. »Sie war ein ungewöhnliches Mädchen. Vor langer Zeit lebten wir alle in Chicago. Das ist unsere Heimat. Deine Mutter war der Stolz der Familie. Mit zwanzig Jahren hatte sie bereits die Universität absolviert und eine Stellung angenommen. Ungefähr um diese Zeit wurde die Aufnahme gemacht, ein paar Monate nach ihrem Examen. Fran war ein sehr sensibles, aber auch sehr aktives Mädchen. Sie war Frauenrechtlerin und sprach dauernd von Gleichberechtigung. Damals hatten die Frauen noch kein Stimmrecht wie heutzutage, und sie hielt ständig Reden über dieses Thema. Sie war aber auch eine ausgezeichnete Buchhalterin. Um diese Zeit kam ich nach New York. Ein wenig später
Weitere Kostenlose Bücher