Die Moralisten
verliebte sie sich in einen Mann, der in derselben Firma wie sie arbeitete. Sie wollte ihn heiraten, aber meine Eltern waren dagegen. Er war nämlich kein Jude, und unsere Familie war strenggläubig. Na, kurz und gut, sie lief mit ihm davon. Ich bekam einen Brief von ihr mit der Nachricht, daß sie mich sofort nach ihrem Eintreffen in New York aufsuchen würde. Das war das letzte, was wir je von ihr gehört haben. Wir haben versucht, sie zu finden, aber es war vergeblich. Wir haben nicht die geringste Spur von ihr entdeckt. Bald darauf starb meine Mutter, und mein Vater kam nach New York und wohnte bei uns. Er hat oft zu mir gesagt: >Wenn wir nicht so dumm gewesen wären, und wenn wir Faigele ihren Willen gelassen hätten, wären wir jetzt alle noch zusammen.< Er ist kurz nach meiner Mutter gestorben. Seit ihrem Tod ist er nie mehr recht glücklich geworden.«
Er nahm das Bild wieder von der Kommode und hielt es in der Hand.
»Aber das alles ist vergangen«, sagte Tante Bertha. »Jetzt ist die Gegenwart wichtig. Ich habe das Gefühl, sie wissen alle, daß du bei uns bist, und sind darüber glücklich - genauso glücklich wie wir, daß wir dich bei uns haben. Wir haben dich lieb und möchten, daß du uns auch liebhast, Frankie.« Sie nahm meinem Onkel das Bild aus der Hand und stellte es wieder auf die Kommode.
»Ja, Ma'am«, sagte ich und schlüpfte ins Bett.
»Gute Nacht«, sagten sie beide. Tante Bertha beugte sich über mich und küßte mich auf die Wange.
»Gute Nacht«, sagte ich.
Sie gingen zur Tür. Tante Bertha blieb mit der Hand am Lichtschalter stehen. »Frankie«, sagte sie.
»Ja, Ma'am?«
»Sag nicht >Ja, Ma'am< zu mir. Nenn mich Tante Bertha.«
Sie knipste das Licht aus und verließ das Zimmer.
»Ja - Tante Bertha«, flüsterte ich vor mich hin und befühlte meine Wange. Sie war noch warm, wo sie mich geküßt hatte. Das Mondlicht fiel auf das Bild meiner Mutter, als ich einschlief, und es war, als ob sie in der Dunkelheit lächelte.
Am nächsten Morgen erwachte ich früh. In der Wohnung war es still. Alle schienen noch zu schlafen. Ich stieg aus dem Bett und ging zur Kommode, um auf meine Uhr zu sehen. Es war erst halb sieben. Ich trat ans Fenster und blickte hinaus.
Es war alles noch in grauen Dunst gehüllt. Mein Zimmer ging auf den Hof, der von zwei anderen Häusern umschlossen war. Aus den offenen Fenstern drangen das Schrillen von Weckern und der Duft des Morgenkaffees. Leise ging ich ins Bad, um mich zu waschen.
Dann ging ich wieder in mein Zimmer und setzte mich. Ich mußte mich erst daran gewöhnen, daß ich nicht mit einer Schar anderer Jungen in einem Raum schlief, und ich vermißte die morgendliche Balgerei und die Witze. Als ich Schritte im Flur hörte, öffnete ich die Tür. Es war meine Tante.
»Guten Morgen, Frankie. Du bist ja schon früh auf den Beinen.« Sie lächelte.
»Ja, Ma'am«, sagte ich. »Ich bin es so gewohnt.«
»Hast du dich schon gewaschen?« fragte sie.
»Ja«, sagte ich. »Ich habe mich auch schon angezogen.«
»Würdest du dann wohl eben zum Bäcker laufen und ein paar Brötchen holen?« fragte sie. »Dann könnte ich mir den Weg sparen.«
»Aber gern, Tante Bertha«, sagte ich.
Sie gab mir Geld und beschrieb mir den Laden, wo ich die Brötchen holen sollte.
Es war fast sieben Uhr, und die Leute gingen zur Arbeit. Ich machte die Besorgung für meine Tante und kaufte mir auf dem Heimweg die News.
Zu Hause legte ich meine Einkäufe auf den Küchentisch, dann setzte ich mich hin und las die Zeitung. Ein paar Minuten später erschien meine Tante, um Kaffee zu kochen. Kurz darauf kam auch mein Onkel und setzte sich ebenfalls an den Tisch.
Als wir mit dem Frühstück fertig waren, kamen die Kinder herein.
»Guten Morgen«, sagten sie einstimmig, traten von beiden Seiten an ihren Vater heran und küßten ihn auf die Wange. Dann gingen sie zu Tante Bertha und küßten sie, und schließlich kamen sie zu mir und küßten mich ebenfalls. Ich mußte lachen. Sie zogen sich Stühle an den Tisch und setzten sich.
Onkel Morris warf einen Blick auf seine Uhr. »Zeit, daß ich gehe«, sagte er. »Gehst du heute zur Schule, Frankie?« fragte er.
»Ich denke ja«, erwiderte ich.
»Na, dann kannst du mir ja heute abend berichten, wie es war.« Er küßte seine Frau und ging hinaus.
»In was für eine Schule gehst du, Frankie?« erkundigte sich Essie, die Jüngere.
»George-Washington-Oberschule.«
»Ich gehe in die Volksschule 181«, sagte sie.
»Fein«, sagte
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