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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ich. Dann herrschte wieder Stille. Ich wußte nicht, worüber wir reden sollten.
    Tante Bertha gab den Kindern ihr Frühstück und setzte sich dann zu uns. Lächelnd fragte sie: »Hat dir das Frühstück geschmeckt, Frankie?«
    »Großartig, Tante Bertha.«
    »Das freut mich. Aber jetzt ist es Zeit, daß du dich auf den Weg machst. Du willst doch sicher nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen.«
    »Nein, bestimmt nicht.« Ich ging auf mein Zimmer, band mir die Krawatte um und zog meine Jacke an. »Auf Wiedersehen!« rief ich.
    Tante Bertha ging mit mir zur Tür. Im Flur steckte sie mir Geld zu. »Hier ist dein Taschengeld für die Woche«, sagte sie. »Für das Mittagessen und Kleinigkeiten. Wenn du mehr brauchst, kannst du es ruhig sagen.«
    Es waren drei Dollar. »Ich glaube nicht, daß ich mehr brauche. Vielen Dank.«
    »Alles Gute«, sagte sie. Ich zog die Tür hinter mir ins Schloß. Mir war ganz komisch zumute. Alles war so anders.
    Die George-Washington-Oberschule war ein neues, rotes Backsteingebäude, von einer Kuppel gekrönt.
    Ich wurde zur Schulverwaltung geschickt. Dort nannte ich einer Angestellten meinen Namen und wartete, bis sie meine Karte gefunden hatte. Sie sagte mir, ich solle beim Läuten der Neun-Uhr-Glocke ins Klassenzimmer 608 gehen.
    Als die Glocke läutete, waren die Gänge voll von Kindern, die zu ihren Klassenzimmern eilten. Ich fand meins ohne große Schwierigkeiten und gab meine Karte dem Klassenlehrer. Er wies mir einen Platz hinten im Raum an. Ich sah mich um. Die Klasse schien gemischt - etwa zwanzig farbige Jungen und Mädchen und zwanzig weiße. Der Junge neben mir war farbig.
    »Neu hier?« fragte er und grinste übers ganze Gesicht. »Mein Name ist Sam Cornell.«
    »Ich heiße Kane«, sagte ich. »Francis Kane.«
    Als ich eine Woche in die neue Schule gegangen war, sprachen wir zu Hause auch über Religion.
    Meine Tante und mein Onkel waren sehr tolerant und zwangen mich zu nichts. Einmal begleitete ich sie zur Synagoge. Sie überließen es mir dann, wie ich mich entscheiden wollte. Ich befaßte mich nie sehr eingehend mit dieser Frage. Ich besuchte nie einen hebräischen Religionsunterricht und ging nie mehr in eine Kirche oder Synagoge. Allerdings dachte ich auch nicht viel an Gott. Ich war der festen Überzeugung, daß ich mit diesem Problem fertig werden würde, wenn mich die Umstände dazu zwangen - wie ich auch alles andere in meinem Leben erst in Angriff nahm, wenn die Zeit dafür reif war, und nicht vorher.
    Vergangene Zeiten kann man nie wieder zurückbringen - das war etwas, was ich sehr bald lernte. Obwohl Jerry, Marty und ich immer noch kameradschaftlich miteinander verkehrten, konnten wir das enge Verhältnis, das vor meinem Umzug in die obere Stadt zwischen uns bestanden hatte, nicht wiederherstellen. Unsere Beziehungen waren nicht weniger freundschaftlich, aber es lag wohl daran, daß ich gewissermaßen einen Normalisierungsprozeß durchmachte. Ich stand nicht mehr draußen und blickte hinein; ich hatte jetzt eine eigene Familie. Ich lernte jetzt manches, wovon ich bisher keine Ahnung gehabt hatte: Rücksichtnahme auf andere und Sorge um meine Mitmenschen. Aber diese Gefühle hatte ich einzig und allein meiner Familie gegenüber. Gegen andere, außerhalb meines Familienkreises, bewahrte ich noch meine alte Einstellung. Es war fast, als steckten zwei verschiedene Frankies in mir. Aber dieser Zwiespalt war mir nicht bewußt, und ich machte mir daher auch keine Gedanken darüber.
    Ich hatte gehört, daß man mich als Kandidaten für die Wahl eines Klassenältesten vorschlagen wollte, und ich wußte genau, daß es zum großen Teil vom meinem Abschneiden in dem heutigen Spiel abhing, ob man mir die Kandidatur antragen würde.
    So spielte ich ein teuflisches Spiel - an der Grenze des Erlaubten, wie ich es auf der Tenth Avenue gelernt hatte. Als die Endergebnisse verkündet wurden, hatten wir gewonnen, und ich war der Star des Spiels.
    Ich duschte und ging wieder in die Turnhalle. In einer Ecke spielte eine Kapelle von sechs Mann, und eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen tanzte. Auch war ein Tisch mit
    Punsch und Limonaden aufgestellt. Marty kam auf mich zu. Er hatte ein Mädchen bei sich. Ich erkannte sie - ein nettes Mädel aus meiner Biologieklasse. Aber ich konnte nicht auf ihren Namen kommen.
    »Ihr kennt euch doch«, sagte Marty zu mir. »Sie wird bei der Wahl als deine Stellvertreterin aufgestellt.« Mit diesen Worten eilte er davon und ließ uns

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