Die Moralisten
anpflaumen zu lassen. »Wenn ich geahnt hätte, daß ich dich hier treffen würde, hätte ich einen langen Umweg gemacht. Du bist der allerletzte Mensch auf der Welt, dem ich begegnen wollte.«
»Was ist denn los, Kleiner? Kannst du keinen Spaß
Gegen zehn ging ich nach unten zum Telegrammtisch.
Ich gab ihr, was sie wünschte. Während ich die Sac
Ich zog meinen Mantel aus und warf ihn über einen
»Gestern. Warum hat sie Sie unter einem anderen Na
Er hielt ein Bündel Papiere in die Höhe. Dann schl
»Was ist denn los, Kleiner? Kannst du keinen Spaß verstehen?«
»Das schon. Aber allmählich hängt's mir zum Hals heraus. Was hast du eigentlich gegen mich?«
»Gar nichts, mein Kleiner«, sagte sie lächelnd. Dis Lächeln war mir vertraut, Marty lächelte genauso. »Ich halte dich nur für einen ziemlich schrägen Burschen. Im Grunde bist du verdorben und hart, und ich mag solche Leute nicht.«
Jetzt reichte es mir. »Du bist auch gerade kein Prachtexemplar«, höhnte ich. »Du bist nichts weiter als eine gemeine, eigensüchtige Hexe, die sich das Maul zerreißt über andere Leute, die sie nicht einmal kennt.«
Sie hob die Hand, um mich ins Gesicht zu schlagen. Sie war schnell, aber ich war schneller. Ich ergriff ihr Handgelenk und hielt es fest. Wir starrten uns an. Ihre Augen funkelten. Eine Weile standen wir so, dann ließ ich ihren Arm los. Ich sah die weißen Stellen, wo ich sie am Handgelenk gepackt hatte.
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, sagte ich. »Es ist nicht damenhaft.«
Die lodernde Flamme in ihren Augen erlosch, ihre Züge lösten sich, und sie versuchte zu lächeln. Das Mädchen hatte Mumm. »Du hast recht, Frankie. Ich glaube, ich habe dir nie eine Chance gegeben, seitdem... «
»Seitdem ich Marty bei euch im Wohnzimmer verdroschen habe?« unterbrach ich sie.
»Nein«, sagte sie. »Das war es nicht. Ich dachte an Julie.«
»Julie?« fragte ich überrascht. »Du hast davon gewußt?«
»Ich wußte, daß Julie in dich verknallt war, und das ärgerte mich. Wir waren wie Schwestern, bist du auftauchtest. Da war dann plötzlich alles anders. Sie tat immer sehr geheimnisvoll, und... ich glaube, ich war etwas eifersüchtig. Und nachdem sie fortgegangen war, fragte sie in ihren Briefen nach dir und ließ dich grüßen. Aber ich habe dir das nie erzählt.«
Der Gong rief zum Unterricht, aber ich ging nicht in die Klasse. Ich wollte erfahren, wieviel sie über mich und Julie wußte. Deshalb nahm ich ihren Arm und führte sie den Flur entlang. Sie ging bereitwillig mit.
»Warum?« fragte ich.
»Ich habe schon gesagt, warum. Es war kindisch. Aber das ist jetzt vorbei. Ich weiß es. Julie ist übrigens verheiratet.«
Ich empfand ein unerklärliches Gefühl der Erleichterung. »Wann hast du eigentlich gemerkt, was zwischen mir und Julie los war?«
»Oh, an einem Sonntag, als ihr beide vom Strand kamt und vor ihrer Tür standet. Ich hörte Stimmen draußen im Flur. Da habe ich die Etagentür aufgemacht und gesehen, wie du sie geküßt hast. Und von da an warst du für mich erledigt, wo ich dich sowieso schon nicht besonders leiden konnte wegen Marty.«
»Oh!« sagte ich. »Ist das alles?«
»Genügt das nicht?« fragte sie.
In diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich mir ihretwegen keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Ich kam mir bedeutend älter vor als sie. Mir war froh und leicht zumute. Wir standen in einer Ecke des Flurs, und es waren keine Schüler zu sehen, da der Unterricht bereits begonnen hatte.
»Ein Kuß hat nicht viel zu sagen«, erklärte ich. »Das kann ich dir zeigen!« Ich nahm sie rasch bei den Schultern und küßte sie auf die Lippen. Dann ließ ich sie los. »Siehst du, was ich meine?«
Sie hob wieder die Hand, und ich hielt mir spaßeshalber den Arm zum Schutz vors Gesicht. »Doch nicht schon wieder!« sagte ich lächelnd.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht schon wieder!«
»Freundschaft?« fragte ich und streckte die Hand aus.
»Freundschaft!« sagte sie und nahm meine Hand.
Wir bekräftigten diese neue Freundschaft mit feierlichem Händedruck.
»Muß jetzt gehen«, sagte ich. »Hab' so was wie Unterricht.«
Ich hatte schon fast die halbe Entfernung zum Klassenraum zurückgelegt, als ein Geräusch mich veranlaßte, mich umzudrehen und zurückzugehen. Ruth weinte.
»Was ist denn los, Ruth?« fragte ich. »Verzeih mir! Ich wollte nicht aufdringlich sein.«
»Ach nichts!« schluchzte sie. »Warum gehst du nicht weg und läßt ein Mädchen allein,
Weitere Kostenlose Bücher