Die Moralisten
schweigend auf, verlegen und verärgert.
Mir kam das Ganze so kindisch vor.
Mehrere Wochen später saß ich in der Schule beim Lunch, als Marty sich plötzlich neben mich setzte. »Hallo, Frankie!« sagte er. »Was gibt's Neues?«
»Nichts. Vielleicht kannst du mir was erzählen.«
»Ich habe auch nichts auf Lager. Du bist es doch, über den man redet.«
»Allerdings.«
»Die ganze Schule redet davon, daß du dich nicht wieder für das Klassenamt beworben hast. Sie sagen, du hieltest dich für zu gut dafür.«
Ich lachte. »Laß sie doch reden.«
»Was ist eigentlich in dich gefahren?« fragte er.
»Nichts«, sagte ich. Ich spießte mit der Gabel den Pappdeckel aus der Milchflasche und trank einen Schluck. »Ich hab' den Kram allmählich satt, diesen Blödsinn, den sie uns da verzapfen, daß wir den Schülern helfen sollen.«
Marty langte nach meiner Milchflasche und trank. Ich beobachtete ihn. »Vielleicht auch noch etwas Kuchen?« fragte ich.
Er grinste. »Nein, danke. Ich bin nicht hungrig.«
»Was tust du denn eigentlich hier unten, zum Kuckuck noch mal?«
»Wenn du's ganz genau wissen willst: ich wollte mit dir reden. Ich meine, daß du wieder mit uns zusammenarbeiten solltest.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte ich und stand auf. »Aber ich habe den Laden zugemacht.«
»Na schön!« sagte er und stand ebenfalls auf.« Wenn das
deine Einstellung ist. Aber ich glaube, du machst einen großen Fehler.«
»Ich weiß. Aber schlag dir die Sache aus dem Kopf. Fehler mache ich am laufenden Band.«
Als ich den Erfrischungsraum verließ, schlenderte ich über den Schulhof auf die andere Seite der Straße. Dort stand eine Reihe von Bänken. Ich setzte mich hin und zündete mit eine Zigarette an. Die Bänke standen auf einem kleinen Hügel, und man konnte von dort über den Fluß bis zum Stadtteil Bronx sehen. Es war Mitte April, und der Tag war warm und dunstig. Ich hörte den Schulgong, der den Beginn einer neuen Unterrichtsstunde ankündigte, und dachte: >Zum Teufel damit!< Ich hatte im Augenblick überhaupt kein Verlangen nach Mathematik. Ich konnte sehen, wie die Schüler ein- und ausgingen, und lehnte mich behaglich zurück. Meine Zigarette war fast zu Ende. Ich zündete mir an dem Rest eine neue an und warf die Kippe fort.
Ein paar Mädchen kamen den Weg entlang auf mich zu. Janet war auch dabei. Ich wandte den Kopf ab in der Hoffnung, daß sie mich nicht sehen würde. Seit jenem Abend vor drei Wochen hatte ich sie nicht mehr besucht. Aber sie hatte mich bereits entdeckt und kam zu mir. Die Sonne schien auf ihr Haar, und sie sah sehr hübsch aus. Aber ich wollte nicht mit ihr reden und wünschte, sie hätte mich nicht gesehen.
»Hallo, Frankie!« sagte sie lächelnd. Etwas an diesem Lächeln packte mich. Es war, als hätte sie gesagt: >Sei nicht böse. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, so war es nicht absichtlich.<
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Hallo, Janet.«
»Hast du keinen Unterricht?« fragte sie.
»Ja, aber ich bin faul. Frühjahrsmüdigkeit wahrscheinlich.«
»Es ist schön heute. Findest du nicht?«
»Ja.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich hinsetze?«
»Nein. Dafür sind die Bänke ja da.«
Sie setzte sich etwas abseits von mir. Eine Zeitlang sprachen wir nichts, sondern sahen nur auf den Fluß hinab. Aber unser Schweigen war wie ein Gespräch. Ich konnte mir vorstellen, wie sie mich fragte: >Warum hast du mich nicht mehr besucht?< und wie ich darauf antwortete: >Ich wollte es, aber ich hatte zuviel zu tun!< Und dann würde sie fragen: >Wie kommst du in der Schule voran?< Und ich würde sagen: >Ganz gut. Habe durchschnittlich achtzig Punkte bekommen.< Sie: >Gehst du in diesem Jahr wieder in die Schwimmanschaft?< Ich: >Vielleicht. Ich habe mich noch nicht entschieden<, obgleich ich wußte, daß ich es tun würde, weil der Trainer mich darum gebeten hatte. Sie: >Wie geht's deinem Onkel und deiner Tante?< Ich: >Ganz gut. Aber mein Onkel hat eine Erkältung, die er den ganzen Winter hindurch nicht losgeworden ist. Der Husten geht einfach nicht weg. Und wie geht's deinen Eltern und deiner Großmutter?< Sie: >O. k. Aber meine Großmutter wird auch älter.< Und während der ganzen Zeit würde ich an etwas anderes denken: wie sie mich zuerst geküßt hatte und wie sie mir beim Bügeln des Unterkleides in der Küche sagte, daß sie mich liebte, und wie das Parfüm in ihrem Haar mir immer in der Nase kitzelte. Wir würden über unsere Mitschüler reden, während wir in
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