Die Moralisten
verschwunden. Ich sprang aus dem Bett. Ich ging an die Kommode und öffnete die Schublade, in die ich mein Geld gelegt hatte. Sie war leer. Ich fluchte leise vor mich hin, während ich mich anzog. Alles, was ich noch hatte, waren die zehn Dollar in meiner Hosentasche. Als ich den Korridor entlanglief, sah ich rasch auf die Uhr. Es war beinahe fünf. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter und ging zum Telegrammtisch.
»Ist die Telegraphistin irgendwo?« fragte ich.
»Welche?« fragte der Angestellte, der den Nachtdienst versah.
»Die vom Tagesdienst. Sie heißt Helen.«
»Ach, die! Die war nur zur Vertretung da. Für einen Tag. Die reguläre Telegraphistin war krank. Wieso, stimmt etwas nicht?«
Stimmt etwas nicht? Du meine Güte! Ich war total ausgeplündert. Ich schuldete dem Hotel zwanzig Dollar, und der Mann fragte mich, ob etwas nicht stimmte! »Nein«, sagte ich, »es war nur wegen eines Telegramms, das ich aufgegeben hatte.«
Ich ging wieder auf mein Zimmer. Es hatte jedenfalls nicht sehr lange gedauert, bis ich mein Geld los war. Ich hatte schon von Matrosen gehört, die sich wenige Tage nach ihrer Entlassung wieder anheuern ließen, weil sie um ihr Geld geprellt und pleite waren - oft waren es die Ersparnisse ihrer ganzen Dienstzeit -, und ich hatte es nie verstehen können. Und jetzt war es mir auch passiert. Ich rauchte eine Zigarette, während ich über meine nächsten Schritte nachdachte.
Gegen zehn ging ich nach unten zum Telegrammtisch. Jetzt saß dort eine andere Telegraphistin. »Wissen Sie zufällig, wo
Helen ist?«
Sie zuckte die Achseln. »Wie soll ich das wissen? Das Büro hat sie als Ersatz geschickt, als ich nicht da war. Soll ich mich nach ihr erkundigen?«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Es ist nämlich sehr wichtig.«
Sie rief das Zentralbüro der Telegraphengesellschaft an. Die Auskunft von dort lautete: »Die war nur für den einen Tag engagiert. Sie hat ihren Dienst bezahlt bekommen und hat keine Adresse hinterlassen.«
So war das also. Ich ging zum Empfang und bat um eine Unterredung mit dem Hoteldirektor. Man führte mich in sein Büro. Er war ein mittelgroßer, ruhiger, grauhaariger Mann.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Kane?« fragte er höflich.
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er hörte mir mit auf der Brust gefalteten Händen zu. Als ich fertig war, fragte er, was er denn nun für mich tun solle.
»Ich weiß nicht, was Sie dabei machen können«, sagte ich ihm offen.
»Ich auch nicht«, sagte er und erhob sich. »Wir stellen unseren Gästen einen Safe für Geld und Wertsachen zur Verfügung. Es sind überall deutlich sichtbare Schilder angebracht: >Für Geld und Wertsachen, die uns nicht zur Aufbewahrung übergeben sind, wird keine Haftung übernommen.< Wenn wir auf jede Jammergeschichte, die uns vorgesetzt wird, eingehen wollten, wo kämen wir da hin? Ich habe schon viele solcher Geschichten gehört. Die Leute kommen zu mir, wenn sie ihr Geld verloren, verspielt oder sonstwie verjubelt haben, und erwarten, daß ich ihnen helfen soll. Dies hier ist ein Geschäft wie jedes andere, und wir müssen es ordnungsgemäß führen, sonst verlieren wir unseren Posten. Haben Sie noch so viel, um Ihre Hotelrechnung zu bezahlen?« fragte er.
»Nein. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß dieses Weibsstück mich völlig ausgenommen hat.«
Kopfschüttelnd schnalzte er mit der Zunge. »Das ist sehr bedauerlich.«
»Ich weiß. Aber könnten Sie mir nicht ein paar Tage Zeit geben? Ich suche mir eine Arbeit und zahle Ihnen den Betrag auf Heller und Pfennig.«
Er lachte. »Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, Mr. Kane, wie schwer es ist, Arbeit zu bekommen? Und ihr Zimmer ist ziemlich teuer - drei Dollar fünfzig pro Tag, wie ich annehme. Nein, ich fürchte, die Besitzer würden so etwas nicht gestatten.«
»Kann ich den Betrag denn nicht abarbeiten?«
»Tut mir leid«, sagte er, »aber das geht nicht. Wir haben sowieso schon zuviel Personal, und ich bin gezwungen, in der kommenden Woche einige Leute zu entlassen.«
»Da wäre ich also wieder genauso weit wie am Anfang. Was soll ich nun machen?«
»Ich weiß es auch nicht. Aber unter diesen Umständen müssen Sie das Zimmer sofort räumen. Außerdem erwarten wir, daß Sie uns Ihre Kleidung - hm, das heißt natürlich, was Sie nicht am Leibe tragen - als Sicherheit zurücklassen.«
Diese Zumutung machte mich wütend. Ich stand auf. »Sie lausiger Bastard«, sagte ich. »Das ist eine gemeine Art und Weise, jemanden zu
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