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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Ihren Lohn auszahlen, wenn sie wieder nüchtern sind«, sagte er, drehte sich um und ging ins Haus zurück.
    Ich blickte ihm hilflos nach. Ich versuchte wieder, etwas zu
    sagen - aber vergeblich. Ich lehnte an der Hauswand und konnte nur hoffen, daß ich nicht ohnmächtig würde. Wut, Scham und die Demütigung brannten in mir. Dieser Bursche glaubte, ich wäre betrunken! Ich hätte heulen können, aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich mußte mit dem schwankenden Gehsteig fertig werden. Es war wie ein Seiltanz. Jede Sekunde glaubte ich zu fallen. Ich sank in die Hocke und stützte den Kopf auf die Arme. Ich schloß die Augen, um die fürchterliche Schräge des Gehsteigs nicht zu sehen. Ich hatte Angst davor. Ich versuchte, nicht daran zu denken. Ich versuchte, an gar nichts zu denken.
    Schließlich ging auch das vorüber. Ich fühlte mich allmählich etwas besser. Ich hob den Kopf und öffnete die Augen. Sie waren feucht von unterdrückten Tränen. Dumpfe Kopfschmerzen quälten mich. Aber der Gehsteig war wieder normal. Ich stand langsam auf. Immer noch fühlte ich mich zittrig auf den Beinen. Ich tastete mich an der Hauswand entlang bis zur Tür. Als ich hineinging, stürzte ein Angestellter an mir vorbei, um den Milch- und Eierbrei zu entfernen.
    Ich ging zu dem kleinen Glaskäfig, den der Chef als sein Büro bezeichnete.
    »Mr. Rogers«, begann ich.
    »Hier ist Ihr Lohn, Kane«, sagte er. Er hielt mir fünf Dollar hin.
    Vorsichtig nahm ich das Geld in Empfang. Hastige Bewegungen mußte ich noch vermeiden. Ich zählte nach.
    »Aber, Mr. Rogers«, sagte ich, »das sind nur fünf Dollar. Ich habe drei Tage gearbeitet. Es müßten also sieben sein.«
    »Ich habe das abgezogen, was Sie zerbrochen haben.« Damit drehte er mir den Rücken zu.
    Verdattert steckte ich das Geld in die Tasche. Ich wollte gehen, kehrte aber wieder um. »Mr. Rogers«, erklärte ich, »ich war nicht betrunken. Ich war krank.«
    Er sagte nichts. Ich konnte sehen, daß er mir nicht glaubte.
    »Sie müssen mir glauben, Mr. Rogers!« Meine Stimme zitterte. »Es ist wahr. Mir wurde schwindlig und...«
    »Wenn Sie krank sind, sollten Sie nicht arbeiten«, sagte er. »Hauen Sie ab. Ich habe keine Zeit.«
    Ich wußte, daß es keinen Zweck hatte. Er glaubte mir nicht. Ich ging an den Angestellten vorbei, legte meine Schürze ab und zog meine Jacke an. Sie beobachteten mich verstohlen. Ich hatte hier noch nicht lange genug gearbeitet, um jemanden zu kennen. Ich spürte, daß sie genauso dachten wie Mr. Rogers.
    Ich ging sofort nach Hause. Ich fühlte mich zu elend, um mir noch am selben Tag eine neue Arbeit zu suchen. Außerdem hatte ich ein merkwürdiges Gefühl von Scham. Ich bildete mir ein, daß mich jeder auf der Straße sonderbar anschaute. Ich ging auf mein Zimmer und legte mich hin. So verbrachte ich den Rest des Tages. Ich hatte keinen Hunger und kein Verlangen, irgend etwas zu essen.
    Am nächsten Morgen ging ich wieder los. Aber der Tag verging, ohne daß ich Arbeit fand. An den folgenden Tagen erging es mir nicht anders. In meiner Kasse herrschte Ebbe. Ich begnügte mich mit einer billigen Mahlzeit am Tag. Mitte der nächsten Woche war ich pleite. Ich sah keine Chance, Arbeit zu bekommen, und am Sonntag mußte ich dreieinhalb Dollar für die Miete auf den Tisch legen.
    Ich war gerade auf der Straße, als mir die Idee kam: Ich würde nach New York zurückkehren. Dort kannte ich mich aus. Dort hatte ich Freunde. Sie würden mir helfen, meine Verwandten zu finden. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und packte alle meine Sachen - die neuen Anzüge und Hemden, die ich vor ein paar Wochen gekauft hatte - in meinen Koffer. Als ich das Haus verließ, sagte ich meiner Wirtin, daß ich mein Zimmer Ende der Woche aufgeben würde.
    Ich entdeckte an der Main Street ein Pfandhaus, ging hinein und leerte den Inhalt meines Koffers auf den Ladentisch. Ein alter, bebrillter Mann kam herbei, um mich zu bedienen. »Was können Sie mir dafür geben, Onkel?« fragte ich.
    Er prüfte die neuen Anzüge sorgfältig. Dann legte er sie beiseite. »Nichts zu machen«, sagte er. »Ich befasse mich nicht mit heißer Ware.«
    »Onkel«, sagte ich, »das ist keine heiße Ware. Ich habe die Sachen letzte Woche gekauft. Aber ich bin all mein Geld losgeworden und möchte aus diesem Nest hier heraus.«
    »Haben Sie vielleicht noch den Kassenzettel?« fragte er mit einem listigen Blick.
    Ich fischte in meiner Brieftasche und fand den Kassenzettel für die Anzüge. Er sah ihn sich

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