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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zweihundert Dollar in der Tasche.
    Mr. Morris Cain, 221 Lincoln Drive, Tucson, Arizona.
    Lieber Onkel Morris -
    Bin heute aus der Marine entlassen. Möchte Euch sofort aufsuchen. Werde Ende der Woche abfahren. Genaue Ankunft teile ich noch mit. Bin gespannt, Euch alle zu sehen.
    Herzlichst Frank
    Ich folgte dem Hotelpagen, der mir mein Zimmer zeigte. Rasch packte ich den Inhalt meines Seesacks in die Kommodenschubladen. Dann ging ich wieder nach unten und erkundigte mich bei dem Mann am Empfang nach einem guten Bekleidungsgeschäft. Er schickte mich in einen Laden auf der Grand Avenue. Ich erstand drei gute Anzüge zu je neunzehn Dollar. Der Mann versprach, sie in einigen Tagen fertig zu haben. Ich bat ihn, sich zu beeilen, und er sagte sie mir für Sonnabend, einen Tag nach Neujahr, zu. Dann ging ich in ein Kurzwarengeschäft und kaufte mir sechs Hemden für einen Dollar und fünfundzwanzig Cent das Stück, etwas Unterwäsche, Socken und Krawatten, um meine Garderobe zu vervollständigen, außerdem für sechs Dollar einen kleinen Koffer. Dann kehrte ich ins Hotel zurück und überlegte, daß ich losfahren könnte, sobald die Anzüge kamen.
    Die Tage schlichen dahin. Ich verbrachte Silvester und fast den ganzen Neujahrstag in meinem Zimmer. Im Hotel fanden mehrere Neujahrsgesellschaften statt. Ich konnte den Lärm durch die geschlossene Zimmertür hören. Seltsamerweise fühlte ich mich nicht als Außenseiter. Mich beschäftigte zu vieles. Ich stellte mir vor, wie glücklich sie alle waren, wenn sie mein Telegramm bekamen, wie gespannt sie mein Kommen erwarteten. Ich war überzeugt, daß ich die Kinder nicht wiedererkennen würde. Sie mußten inzwischen junge Damen sein.
    Am nächsten Tag ging ich ins Geschäft, um meine Anzüge abzuholen. Ich legte meine Uniform ab und zog den braunen Tweedanzug an. Ich erkannte mich im Spiegel kaum wieder. Es war schon so lange her, seitdem ich Zivil getragen hatte. Ich fühlte mich sehr wohl darin. Ich beschloß, mir meine Fahrkarte zu besorgen. Ich löste eine Karte nach Tucson für den Zug, der am nächsten Morgen abfuhr. Dann ging ich ins Hotel zurück, um meine Rechnung zu bezahlen.
    Am Empfang gab man mir ein Telegramm aus Tucson. Ich war viel zu aufgeregt, um es sofort zu öffnen, Sie haben geantwortet, dachte ich. Ich war so nervös, daß ich auf mein Zimmer rannte, um es zu lesen. Sobald ich die Tür hinter mir zugemacht hatte, öffnete ich den Umschlag.
    Er enthielt eine Kopie meines Telegramms mit der amtlichen Mitteilung: »Ihr beigefügtes Telegramm vom 30. Dezember 1931 konnte aus folgendem Grunde dem Empfänger nicht ausgehändigt werden.« Es folgte eine Liste von Gründen, von denen einer mit Bleistift angekreuzt war: »Empfänger verzogen, ohne Adresse zu hinterlassen.«
    Im ersten Augenblick verstand ich es nicht. Ich sank in einen Sessel. Alle meine Hoffnungen hatten sich in Rauch aufgelöst. Ich saß wie gelähmt. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte nie damit gerechnet, daß sie fortziehen würden, ohne mich zu benachrichtigen. Aber dann wurde mir klar, daß sie mich gar nicht benachrichtigen konnten. Sie hatten nie gewußt, wo ich steckte. Wieder überkam mich das Gefühl grenzenloser Einsamkeit - das Gefühl, hoffnungslos verlassen zu sein. Die Geräusche der Straße drangen zu mir herauf. Ich hörte das Lachen einer Frau im Korridor. Die Wände schienen mich erdrücken zu wollen. Ich zündete mir eine Zigarette nach der anderen an, bis die Luft ganz verqualmt war. Ich weiß nicht, wie lange ich da im Sessel saß, aber als ich aufblickte, war es draußen dunkel. Langsam stand ich auf und sah aus dem Fenster. Überall in der Stadt brannten die Lichter. Ich wanderte
    planlos im Zimmer umher. Ich konnte keinen Gedanken fassen.
    Dann ging ich nach unten in den Speisesaal. Ich bestellte etwas zu essen - und aß es nicht. Ich verließ den Speisesaal und ging in die Hotelhalle. Da saß ich eine Weile und starrte die Menschen an, ohne sie zu sehen. Ich dachte an nichts, ich schwebte gleichsam in einer dumpfen Leere. Mein Blick fiel auf den Telegrammtisch. Ich stand auf und ging hin. Das Mädchen, das dort saß, blickte auf.
    Ich nahm das Telegramm aus der Tasche. »Wissen Sie etwas darüber?«
    Sie sah es sich an. »Nein, Mr. Kane. Als es kam, habe ich es gleich zum Empfang geschickt.«
    »Glauben Sie, daß es ein Irrtum sein kann?«
    »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »So etwas wird immer sehr sorgfältig geprüft.«
    »Danke«, sagte ich und ging,

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