Die Moralisten
spät in die Nacht arbeiten«, fuhr die alte Frau fort. »Aber Elly ist ein gutes Mädchen. Sie tut das gern.« Sie blickte auf die alte Wanduhr und sprang auf. »Du meine Güte!« rief sie. »Der Tag fliegt nur so dahin. Es ist gleich vier Uhr, und ich muß zur Gebetstunde. Komm, Tom, und du auch, Sam. Ihr müßt beide mitgehen. Elly war heute morgen schon. Sie kann hierbleiben und Frankie Gesellschaft leisten, bis wir zurückkommen. Jetzt aber schnell!«
Sie gingen fort, die beiden Männer mit ihrer Mutter. Behutsam stützten sie sie, als sie die Treppe hinuntergingen. Die Königin von England hätte nicht mit größerer Fürsorge, mit mehr Respekt und Liebe behandelt werden können als diese Frau von ihren Söhnen.
Elly saß auf der Fensterbank und starrte in den schmutzigen braunen Hof hinaus. Ich setzte mich auf einen Stuhl in ihrer Nähe und beobachtete sie. Keiner sagte etwas. Ich zündete mir eine Zigarette an. »Du hast jetzt also Arbeit, Elly«, sagte ich schließlich.
Sie sah mich nicht an. Ihre Stimme war leise und bitter. »Du
weißt ganz gut, daß ich keine habe.«
»Ich weiß gar nichts. Vielleicht erzählst du's mir.«
Sie erwiderte zunächst nichts. Dann sprach sie mit nervöser, aber beherrschter Stimme: »Ich arbeite mit einigen anderen Frauen in einem Appartement.« Ihr Negerdialekt war deutlicher als je. »Wir teilen den Erlös mit der Besitzerin.«
»Es muß doch wohl noch irgend etwas anderes für dich geben«, sagte ich.
»Meinst du?«
Ich wußte darauf keine Antwort.
Nach einer Weile fuhr sie fort, wobei sie meine Stimme absichtlich nachahmte. »Es muß doch wohl noch irgend etwas anderes für dich geben. Aber natürlich! Ich kann in den Woolworth-Laden oder das Warenhaus an der 125th Street gehen und sagen: >Ich bin weiß, und Sie können mich anstellen, um Ihre Waren an die armen Nigger zu verkaufen, die keine Arbeit bekommen können, weil sie schwarz sind und weil nur Weiße in diesem Geschäft angestellt werden können.<
Dann brauchte Tom nicht den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und auf seine Hände zu starren - seine großen, starken, tüchtigen Hände, die sich öffnen und schließen wie über einer Arbeit, die er nicht hat, bis schließlich Gefühle in ihm wachsen, von denen er nie gewußt hat. Und man fühlt einen Stich im Herzen, wenn man dabeisitzt und sieht, wie er sich immer tiefer in seinen Gedanken verliert, bis er zuletzt die Antwort findet. Und dann geht er fort und trinkt - billigen, schlechten Gin, von einem Weißen hergestellt, der so freundlich ist und armen Niggern einen Drink für fünf Cents verkauft, damit sie ihr Blut erhitzen können, bis das Feuer innen sie verzehrt und sie nicht mehr daran denken, daß sie schwarz sind. Für eine Zeit sind sie weiß, und die Welt steht ihnen offen; sie lachen und sind glücklich, bis sie umfallen. Und wenn sie am nächsten Morgen mit schmerzendem Schädel, brennender Kehle und Übelkeit im
Magen aufwachen, fassen sie sich mit den Händen an den Kopf, damit er nicht zerspringt. Und dann sehen sie, daß ihre Hände schwarz und schmutzig sind und keine Arbeit haben. Und dann weinen sie vor sich hin, nicht mit Tränen, nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen, und sie fragen sich: >Wo sind die schönen, tüchtigen weißen Hände, die ich gestern hatte?<
Und dann ist da Sam, der jeden Morgen vor der Schule im Laden arbeitet. Er kennt alles in dem Laden - alle Preise, alle Vorräte. Aber er darf nur Bestellungen austragen. Er kann keine Kunden bedienen, er darf weder Butter noch Käse schneiden. Seine Hände könnten ja abfärben auf den schönen weißen Sahnekäse, der auf das schöne weiße Brot gestrichen wird, das durch irgendeine schöne weiße Kehle gleitet. Sicher, es muß doch wohl noch irgend etwas anderes für mich geben.«
Ihr Gesicht war finster und hart, ihre Augen waren von einer uralten Weisheit erfüllt. »Ich kann mich nackt auf ein schönes weißes Bett legen und mich begehrlich winden, damit der Kunde denkt, ich bin wild auf ihn und kann es gar nicht abwarten, bis er zu mir kommt. Er kann sich dann auf mich legen, als wenn ich sein Schicksal wäre. Er macht sich nie Gedanken darüber, ob das Schwarz abfärbt. Und wenn er dann aufsteht und sich die Hose anzieht, wobei ihm die Knie ein wenig zittern, sieht er mich an und sagt: >Bist du ganz sicher, daß alles bei dir in Ordnung ist, Mädchen? Wenn nicht, dann sag es mir ruhig. Ich bin nicht böse. Ich will es nur wissen, damit ich gleich zu einem Arzt
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