Die Moralisten
sie, daß sie nicht im Laden geblieben war und den Alten noch eine Weile aufgereizt hatte. Zumindest war es dort drin fast kühl gewesen.
Widerstrebend ging sie nun die Straße entlang nach Hause. Auf einer Uhr in einem der Schaufenster sah sie, daß es fast drei Uhr war. Sie zögerte. Wäre es nicht so heiß, würde sie gar nicht erst nach Hause gehen, aber man mußte schon irre sein, um an einem solchen Tag auf der Straße zu bleiben. Hätte sie nur Geld, würde sie ins Kino gehen. Im RKO auf der 86. Straße gab es eine Klimaanlage: Ventilatoren, deren Flügel an großen Eisblöcken vorbeistrichen. Für zehn Cent konnte man den ganzen Tag dort sitzen.
»Marja!« Ein Mädchen hatte sie von hinten angerufen.
Sie drehte sich um. Es war ihre Freundin Francie Keegan. Sie wartete, bis das Mädchen sie eingeholt hatte. »Hallo, Francie.« Francie war ganz außer Atem, da sie den Block entlanggelaufen war. Sie war groß und kräftig und hatte üppige, reife Brüste und Hüften. Sie war ein Jahr älter als Marja und hatte dichtes schwarzes Haar und dunkelblaue Augen. »Wo gehst du hin, Marja?« fragte sie, immer noch heftig atmend.
»Nach Hause«, antwortete Marja kurz angebunden. »Es ist so verdammt heiß. Man kann nicht draußen bleiben.«
Ein Ausdruck der Enttäuschung breitete sich auf Francies Gesicht aus. »Ich dachte, wir könnten ins Kino gehen.«
»Hast du Geld?« fragte Marja.
»Nein.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Marja und ging weiter.
Ihre Freundin schloß sich ihr an. »Hol’s der Teufel!« rief sie. »Die ganze Welt ist pleite!«
Marja sah ihre Freundin von der Seite her an. »Was du nicht sagst!« Sie gingen ein paar Schritte schweigend nebeneinander her; dann legte Francie ihre Hand auf Marjas Arm. »Ich habe eine Idee. Der alte Rannis! Vielleicht können wir dem etwas Geld aus der Nase ziehen.«
Marja schüttelte den Kopf. »Bin gerade erst dort gewesen.«
»Und?« fragte Francie neugierig.
»Nichts«, antwortete Marja. »Ich habe eine kleine Tafel Schokolade bekommen, nachdem ich ihn seine Röntgenstrahlen auf mich habe richten lassen.«
»Und?« »Das war alles«, fuhr Marja fort. »Dann sollte ich nur noch mit ihm nach hinten kommen und mir seine neu gestrichenen Zimmer ansehen, aber nichts von Geld. Ich schulde ihm bereits mehr als drei Dollar. Der wollte nichts weiter, als mit mir nach hinten gehen.« Francie dachte über die Worte ihrer Freundin nach. Schließlich sagte sie: »Na gut, dann eben Schokolade.«
Marja lächelte. »Zu spät.« Sie rieb sich bedeutungsvoll den Magen. »Schon gegessen.«
»Verdammt!« fluchte Francie. »Heute habe ich überhaupt kein Glück.« Sie ging weiter. »Dann können wir ebensogut nach Hause gehen.« Sie wischte sich das Gesicht mit dem kurzen Ärmel ihres Kleides ab. »Ist das heiß!«
Sie hatten fast die Hälfte des Blocks hinter sich, als sie wieder zu sprechen begannen.
»Wer ist bei dir zu Hause?« fragte Francie.
»Wahrscheinlich alle«, antwortete Marja. »Meine Mutter geht erst um fünf Uhr arbeiten.« Ihre Mutter war Putzfrau in einem Büro in der City und arbeitete bis zwei Uhr morgens.
»Dein Stiefvater auch?«
Ein kalter Glanz schimmerte in Marjas Augen auf, so daß sie fast schwarz wirkten. »Der ganz bestimmt«, erklärte sie verächtlich. »Um nichts in der Welt würde er seine drei Büchsen Bier im Stich lassen.« »Arbeitet er überhaupt nicht?« fragte Francie.
Marja lachte auf. »Warum sollte er? Niemals ist es ihm so gut gegangen. Drei Mahlzeiten am Tag und Bier, soviel er nur trinken kann. Er ist kein Dummkopf. Er sitzt nur den ganzen Tag herum und rülpst.«
Ein seltsamer Ausdruck trat in Francies Augen. »Er hat mich neulich auf dem Gang angehalten.«
Marja wandte sich ihr jäh zu. »Was hat er gewollt?«
»Er hat mich nach dir ausgefragt.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Was du eigentlich draußen so treibst. Mit Jungen und so.«
»Ach was!« Marja dachte eine Weile nach. »Mich fragt er auch ständig aus. Was hast du ihm gesagt?«
»Nichts«, antwortete Francie. »Ich bin doch nicht blöd.«
Ein leiser Seufzer der Erleichterung kam über Marjas Lippen. »Zu gern würde er mir etwas nachweisen. Wir können einander nicht ausstehen.«
»Ich weiß«, sagte Francie. »Manchmal höre ich ihn unten brüllen.« Francie wohnte in der Wohnung über Marja.
Sie waren nun schon fast zu Hause angelangt. Die Mietshäuser in diesem Block sahen alle gleich aus. Die gleichen einförmigen, braunen Ziegelsteine, die einmal
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