Die Moralisten
Abfahrt« gestellt. Er hörte die Maschinerie ächzen. Der Fahrstuhl kam zum Stehen.
Er drehte sich zu ihr um. »Du verrücktes Luder!« fuhr er sie an. »Das hätte uns das Leben kosten können!«
Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck wilder Erregung, wie er ihn noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Aber keine Spur von Furcht. »Tatsächlich?« fragte sie mit höflichem Spott. »Das wäre zu schade gewesen.«
Er drehte sich wieder zum Hebel herum und ließ den Aufzug erneut nach oben fahren. »Na gut«, sagte er. Auf Ross’ Stockwerk hielt er an und öffnete die Tür.
Sie trat heraus. »Vielen Dank, Mike«, sagte sie höflich und lächelte ihn an.
»Bitte sehr«, antwortete er im gleichen Ton. Er ließ die Tür noch offen, während sie den Gang entlangging. Er beobachtete sie im Spiegel in der Ecke des Fahrstuhls. Sie hatte einen schönen Gang, und sie wußte es.
Er sah sie vor Ross’ Tür stehenbleiben und auf die Klingel drücken. Die Tür ging fast augenblicklich auf. Er sah das Lächeln auf Ross’ Gesicht und verstand seine Worte.
»Komm herein, Marja, ich habe schon auf dich gewartet.«
Die Tür wurde hinter ihr geschlossen. Er wartete noch etwas und fuhr mit dem Fahrstuhl wieder hinunter in die Eingangshalle. Er sperrte erneut die Tür, setzte sich auf die Bank und nahm sich wieder sein Mathematikbuch vor.
Er starrte auf die Seite, ohne etwas zu sehen. Schließlich klappte er das Buch verärgert zu. Es war sinnlos. Immer wieder mußte er an sie denken.
Er sah sie vor sich, wie sie sich den Gang entlang von ihm entfernte. Er dachte auch an Ross’ Lächeln und hörte seine Begrüßungsworte. Er stand auf und kehrte in den Fahrstuhl zurück. Es wurde ihm bewußt, daß er zum erstenmal in seinem Leben eines Mädchens wegen eifersüchtig war.
Im Fahrstuhl ertönte das Summerzeichen. Er sprang auf und sah auf die Tafel. Die roten Ziffern leuchteten ihm entgegen: 12. Er ließ die Tür zugleiten und drückte auf den Hebel.
Er wartete, bis sie im Fahrstuhl war, bevor er sprach. »Marja, es tut mir leid. Ich hatte dich falsch eingeschätzt.«
Sie sah ihn skeptisch an.
»Wirklich, Marja«, versicherte er ihr. »Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen.«
Der Zweifel wich aus ihren Augen. Jetzt erst bemerkte er, wie tief und dunkel sie waren. »Für mich ist nicht alles so leicht wie für Ross«, fuhr er fort. »Ross ist klug und gehört zu den Schnellen. Ich bekomme immer nur etwas durch hartes Arbeiten.«
Sie lächelte ihn an. Es war ein wirkliches Lächeln. Freundlich und von Herzen kommend. »Ich war ja auch nicht besonders nett zu dir«, gab sie zu.
Er streckte seine Hand aus. »Quitt.«
Sie ergriff sie mit einem Lächeln. »Quitt.«
Er blickte auf ihre Hand, die so klein in der seinen lag. »Bist du wirklich Ross’ Freundin?«
»Ross ist nett zu mir«, sagte sie. »Wirklich nett. Nicht wie die meisten anderen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er nickte. »Ross ist ein netter Kerl.« Er blickte in ihr Gesicht, während er noch immer ihre Hand hielt. »Meinst du, wir könnten vielleicht einmal zusammen ins Kino gehen?«
Sie nickte schweigend, ihre Augen auf sein Gesicht gerichtet. Etwas ging in ihr vor. Es kam über seine Hand zu ihr, etwas, das sie niemals zuvor gespürt hatte. Sie kannte viele Jungen, aber keiner von ihnen beunruhigte sie so wie Mike. Stets war sie dessen sicher, was sie ihnen gegenüber empfand. Hier war es anders. Es war ein anderes Gefühl. Eine Art innerer Schwäche.
Er trat dicht auf sie zu. Sie hob ihren Mund zu seinen Lippen. Sogar der Kuß war anders. Er war warm und süß, sanft, gierig und verlangend. Sie schloß die Augen. Es war ihr, als schwebe sie in warmem, trägem Wasser. Sie fühlte eine Erregung in sich, die sie vorher nie gekannt hatte. Instinktiv wußte sie, was es war. Dies war kein Spiel wie mit den anderen. Dies war ganz sie selbst. Was sie empfand, war der Anfang eines Begehrens.
Sie stieß ihn zur Seite. Ihr Gesicht war gerötet. »Bring mich hinunter«, sagte sie mit leiser, verlegener Stimme.
»Marja«, stieß Mike rauh hervor.
Sie sah ihn nicht an. »Bring mich bitte hinunter«, wiederholte sie und fragte sich, was bei ihr nicht mehr stimmte. Sie fühlte sich warm und glücklich, und dennoch hatte sie das Verlangen zu weinen.
Er wandte sich um und setzte den Fahrstuhl in Bewegung. Sie sprachen nicht mehr, bis sie unten ankamen. Er öffnete die Tür und drehte sich zu ihr um.
»Sehe ich dich wieder?« fragte er.
Sie sah ihn
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