Die Moralisten
sah sie aus blutunterlaufenen Augen an. »Wo bist du gewesen?« fragte er.
»Ich habe gearbeitet«, erklärte sie kurz.
Seine Augen musterten ihr Kleid. »Dein Freund hat mir gesagt, du wärst schon früher weggegangen. Aber du bist nicht nach Hause gekommen.«
Sie antwortete ihm nicht und begann durch die Küche zu ihrem Zimmer zu gehen. Aber schon war er von seinem Stuhl aufgesprungen und vertrat ihr den Weg. »Wo bist du in einem solchen Kleid gewesen?«
Sie blickte ihm gerade in die Augen. »Ich habe gearbeitet, habe ich gesagt.«
Seine Hände packten ihre Schultern. »In diesem Aufzug?«
»Das sind meine Arbeitssachen«, antwortete sie. »Ich war zu müde, um mich noch umzuziehen, und so bin ich in ihnen nach Hause gekommen.« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entziehen. »Laß mich los. Ich muß es morgen zurückgeben. Es gehört nicht mir.« Seine Hand glitt rasch von ihrer Schulter. Bevor sie es verhindern konnte, hatte er ihre Handtasche geöffnet und den Inhalt auf den Tisch geschüttet. Obenauf lag der Zwanzig-Dollar-Schein. Er nahm ihn und drehte ihn herum. »Wo hast du den her?«
Sie starrte ihn an. »Es war ein Trinkgeld.«
»Man gibt kein solches Trinkgeld nur fürs Tanzen«, sagte er. Sie antwortete ihm nicht.
Seine Hand schlug plötzlich zu. »Dirne!«
Der Schlag warf sie halb herum, und sie taumelte gegen die Wand, den weißen Abdruck seiner Hand auf ihrem Gesicht. Der Verschluß ihres Schulterbandes öffnete sich, und ihr Kleid begann zu rutschen. Sie hielt es über der Brust fest.
Seine Stimme klang rauh. »Ich habe deiner Mutter gesagt, was für eine du bist, aber sie hat mir nicht glauben wollen. Ein Glück, daß sie das nicht mehr zu erleben braucht.«
»Ein Glück für dich, meinst du wohl.« Ihre Stimme war ausdruckslos.
Mit einer Hand begann er den Gürtel aus seiner Hose zu ziehen. Er näherte sich ihr drohend. Sie wich ihm aus und riß ein scharfes Fleischmesser aus der Tischschublade. Sie hielt es hoch, die glänzende Spitze gefährlich auf sein Gesicht gerichtet. Ihre Lippen entblößten ihre Zähne, und sie zischte ihn spöttisch an: »Komm nur her! Versuch es mal!«
Er starrte das Messer an und dann sie. Ihre Augen loderten vor Haß, und er wich zurück. »Marja! Du weißt nicht, was du tust!« Sie lächelte kalt. »Wollen wir wetten, daß ich es genau weiß?« Er atmete schwer. Das Mädchen war verrückt. Vorsichtig zog er sich von ihr zurück. »Schon gut, schon gut«, murmelte er ängstlich.
»Das Geld.« Ihre Augen waren noch immer auf sein Gesicht gerichtet.
Er warf den Schein auf den Tisch. Sie schob ihn zusammen mit den anderen Sachen rasch in ihre Handtasche zurück.
Ihr Gesicht war verschlossen und kalt. »Wenn du mir jemals nahe kommst«, sagte sie mit leiser, drohender Stimme, »oder mich anzufassen versuchst, bringe ich dich um, so wahr mir Gott helfe.«
Er antwortete ihr nicht. Er zweifelte nicht im geringsten daran, daß es ihr mit jedem Wort ernst war. Die Tür schloß sich hinter ihr. Er wandte sich dem Eisschrank zu, und seine Hände zitterten plötzlich. Marja lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und schloß die Augen. Es war ihr, als seien seit dem Tod ihrer Mutter tausend Jahre verstrichen, und doch war es erst einen Monat her. Sie öffnete die Augen und betrachtete das Messer, das sie noch immer in der Hand hielt.
Ein Schauer durchlief sie, und sie zuckte zusammen. Sie warf das Messer auf das Bett und begann sich auszuziehen. Sie bemerkte es erst wieder, als sie sich ins Bett legen wollte. Bedachtsam ließ sie es unter eine Ecke ihrer Matratze gleiten. Von da ab legte sie sich nie mehr schlafen, ohne sich vergewissert zu haben, daß es noch da war.
19
Von nun an ging sie überallhin, wohin Joker sie schickte. Nach und nach begann sie ihm zu vertrauen. Niemals hatte sie Unannehmlichkeiten mit einem der Männer, die sie kennenlernte. Sie behandelten sie mit größerer Achtung als die Jungen in der Schule. Die Jungen taten sich immer gegen sie zusammen und versuchten sie zu greifen. Es machte ihr nichts aus; denn sie fühlte sich ihnen weit überlegen. Was wußten sie denn schon von dem, was in der Welt vor sich ging?
Im Laufe des Winters sah sie Mike immer seltener. Mehrmals verabredete sie sich mit ihm, mußte dann aber die Verabredung absagen, weil Joker einen Auftrag für sie hatte. Seit jener Nacht, in der er vor ihrem Haus auf sie gewartet hatte, holte er sie nicht mehr vom Tanzlokal ab. Eines Abends wurde sie ans Telefon gerufen.
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