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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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entfernen und betrachtete dann sein Gesicht im Spiegel. In Gedanken verloren strich er sich mit dem Rasierapparat über die Wange. Ein scharfes Brennen riß ihn in die Wirklichkeit zurück. »Verdammt!« rief er laut und griff nach dem Alaunstift, um das Blut zu stillen.
    Rasch drückte er den weißen Stift auf den Schnitt. Es brannte. Marja, dachte er, Marja. Er fragte sich, ob seine Mutter wohl recht hatte. Er trocknete sich das Gesicht ab und trat ans Fenster. Noch immer schneite es.
    Was mochte Marja wohl tun?
    Auf der großen Uhr in der Halle war es acht, als Mary aus dem Hotel trat. Der Schnee bedeckte die Straßen und dämpfte alle Geräusche des Verkehrs. Sie bog in die 49. Straße ein und ging zur Sixth Avenue. Um das Rockefeller Centre herum würde etwas mehr los sein.
    Dort traf man auch nettere Kunden. Die Touristen und die gehobenen Angestellten in dieser Gegend konnten mehr ausgeben. Broadway und Seventh und Eighth Avenue boten nichts weiter als Zwei-DollarGeschäfte. Auf der Sixth Avenue hingegen hatte ein Mädchen Aussicht auf fünf oder zehn Dollar.
    Sie blickte zum Himmel empor. Noch immer schneite es heftig. Heute nacht würde nicht viel zu machen sein, aber sie konnte es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Sie hatte kein Geld mehr, und die Miete war in einigen Tagen fällig.
    Langsam ging sie die Straße entlang, ihr Gesicht den Schaufenstern zugewandt, als interessierte sie sich für die Auslagen.
    Tatsächlich aber sah sie in die Schaufenster wie in Spiegel. Jeder Mann, der vorbeiging, wurde sorgfältig gemustert und instinktiv abgeschätzt. Sie bog nach links in die Sixth Avenue ein. Es waren kaum Menschen unterwegs. Sie betrat die Cafeteria an der Ecke und bestellte sich eine Tasse Kaffee. Sie nahm sie mit bis zu einem Tisch in der Nähe des Fensters, von wo aus sie den Eingang der Music Hall auf der anderen Seite der Straße beobachten konnte. In etwa zwanzig Minuten war eine Vorstellung zu Ende.
    Ihre Tasse war fast leer, als die ersten Menschen herauskamen. Rasch stürzte sie den letzten Schluck hinunter und überquerte die Straße. Sie trat in eine Ecke der Eingangshalle, als hätte sie sich dort mit jemandem verabredet.
    Ein Platzanweiser ging vorbei. Sie warf ungeduldig einen Blick auf ihre Uhr, als sei sie des Wartens müde. Nun kamen immer weniger Menschen. Noch ein paar Minuten, und sie mußte wieder in den Schnee hinaus. Es sah so aus, als hätte sie an diesem Abend kein Glück.
    Sie wollte sich schon entfernen, als sie instinktiv aufblickte. Ein Mann auf der anderen Seite der Halle beobachtete sie. Rasch warf sie einen Blick auf seine Schuhe. Sie waren braun. Damit gehörte er automatisch zu den Harmlosen. Die Leute von der Polizei trugen schwarze Schuhe. Sie sah ihm wieder ins Gesicht, blieb aber darauf bedacht, nichts als Gleichgültigkeit zu verraten. Dann wandte sie sich um und schlenderte auf die Straße hinaus.
    An der Ecke bei den Verkehrsampeln wartete sie. Ohne sich umzudrehen, wußte sie, daß der Mann ihr in einiger Entfernung gefolgt war. Als das Licht wechselte, überquerte sie die Straße und betrat das R.C.A.-Gebäude. Sie ging eine kleine Treppe hinunter in eine Passage und blieb vor einem Schaufenster stehen.
    In der Spiegelung sah sie den Mann hinter sich vorbeigehen. Einige Schaufenster weiter blieb er stehen. Langsam ging sie an ihm vorbei durch die Drehtür und die Treppe hinauf. Sie kam am Postamt vorbei und blieb vor einem Restaurant stehen, bei dem der untere Teil der Fenster schwarz gestrichen war, so daß man nicht hineinsehen konnte. Dort öffnete sie ihre Handtasche und holte eine Zigarette heraus. Sie wollte sie gerade anzünden, als neben ihr die Flamme eines Feuerzeugs aufblitzte.
    Die Hand des Mannes zitterte leicht, als sie zu ihm aufblickte. Er hatte ein rundliches, glattes Gesicht und dunkle Augen. Er schien ungefährlich. »Danke«, sagte sie.
    Er lächelte. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Seine Stimme klang kehlig und schwerfällig.
    Fragend zog sie eine Augenbraue hoch. Ihre Stimme war freundlich und ohne jede Aggressivität. »Ist das alles, was Sie wollen?«
    Der Mann schien verwirrt. »Nein«, stammelte er. »Aber ...« »Warum wollen Sie sich dann in zusätzliche Unkosten stürzen?« fragte sie lächelnd.
    Er räusperte sich und richtete sich auf, als hoffte er, dadurch eher wie ein Mann von Welt zu erscheinen. »Wie-wieviel?«
    »Zehn Dollar«, antwortete sie rasch und beobachtete ihn aufmerksam, bereit mit ihrem Preis

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