Die Moralisten
»In zwei Stunden«, verbesserte Judd. »Womöglich haben wir keine sechs Stunden mehr Zeit.«
10
Sofia war wütend. »Diese alte Hexe. Sie hat uns alle hereinle gen wollen.«
Judds Stimme blieb gleichmütig. »Das wissen wir doch.« Sofia nahm den Telefonhörer in die andere Hand. »Ja, verstehst du denn nicht? Sie hat nie die Absicht gehabt, dir die Lösung zu geben.«
»Ich bin ja nicht blöde«, erwiderte Judd. »Das wußte ich doch. Oder was hast du gedacht, weshalb ich dich habe herkommen lassen? Ich war fest überzeugt, daß du etwas wüßtest. Ist es nicht so? Hast du den Russen nicht ein paar Akten gestohlen?«
»Woher weißt du das?« fragte sie.
»Das ist doch egal«, sagte Judd. »Der halbe Ostblock ist hinter dir her. Du hast keine Chance, dich irgendwo zu verstecken. Außer bei mir.«
»Hat das State Department dir das gesagt?« »Teilweise«, bestätigte Judd. »Was ist jetzt mit deinen Akten?« »Ich beschaffe sie dir«, erwiderte sie. »Aber das genügt nicht. Es gibt noch mehr Akten. Aber ich glaube, ich weiß, wo sie sind.«
»Sag es mir«, verlangte er. »Wer hat sie?« »Dieser Inder, der in deinen Unterlagen erwähnt wird. In den russischen Akten wird er nicht erwähnt. Deine Akten umfassen den Zeitraum von 1953 bis heute. Die Russen haben eine Kopie deiner Akten, nur die Hinweise auf den Ma-harishi fehlen darin. Dafür gehen die russischen Akten bis 1944 zurück, als ihnen das deutsche Laboratorium in die Hände fiel, in dem Dr. Zabiski vorher gearbeitet hatte.« »Sie hat für die Deutschen gearbeitet?« Judds Stimme klang überrascht.
»Ja«, bestätigte Sofia. »Wundert dich das? Habt ihr damals nicht alle deutschen Raketenwissenschaftler aus Peenemünde gefangengenommen und sofort in die Vereinigten Staaten geschafft?«
»Okay, okay«, sagte er unwillig. »Aber was war mit Dr. Zabiski?«
»Die Russen haben sie und ein paar andere Ärzte geschnappt, aber die Aufzeichnungen aus den Jahren 1941 bis 1943 wurden niemals gefunden. Sie hat behauptet, die Akten wären verbrannt. Zusammen mit einem indischen Wissenschaftler, den die Nazis für einen Nichtarier hielten. Ich glaube aber, Dr. Zabiski hat den Inder mit allen Unterlagen herausge schmuggelt, ehe die Rote Armee das Lager besetzte.« »Und wie sind dann die Hinweise auf diesen Maharishi in meine Akten gekommen?« fragte Judd. »Sieh dir mal das Original genau an«, sagte Sofia. »Die Hinweise auf den Maharishi sind alle nachträglich mit Kugelschreiber eingefügt worden. Es ist ihre eigene, typische Kurzschrift. Alle anderen Aufzeichnungen wurden entweder mit der Schreibmaschine oder mit einem Federhalter gemacht. Ich vermute, daß sie die Hinweise auf den Inder erst in letzter Minute hinzugefügt hat. Wahrscheinlich im Flugzeug, als sie schon auf dem Weg nach New York war. Ich glaube, der Inder war keiner der Ärzte aus ihrem Team, aber er hat wohl entscheidend zum Erfolg ihrer Untersuchungen beigetragen, deshalb hat sie versucht, ihn zu retten.« »Und was geschah mit den anderen Ärzten?« »In den russischen Akten werden zahlreiche Experimente erwähnt, die zusammen mit den Wissenschaftlern begraben wurden, die sie seinerzeit durchgeführt haben.«
Sofia schwieg einen Moment. »Ich glaube, du hattest recht, als du sagtest, sie wäre sehr hart.« »Sie war eine sehr energische Lady.«
»Aber außerdem war sie auch ein Genie, und du warst der einzige, dem sie jemals getraut hat.« - »Allerdings nicht so weit, daß sie mir alles gesagt hätte, wie es scheint.« »Vielleicht wollte sie nicht riskieren, alle Teile des Puzzles zusammenzufügen. Sonst hätten womöglich die Russen die Akten entdeckt und beschlagnahmt. Du warst der einzige Mensch, dem sie freiwillig den größten Teil ihrer Forschungen anvertraut hat.« Sofia zögerte einen Moment. »Was machen wir jetzt?«
»Warum hast du dich nicht schon früher bei mir gemeldet?« »Ich habe es einmal versucht. Aber ich hatte nur wenig Zeit, und du warst wieder einmal nicht zu erreichen. Ich mußte den Versuch aufgeben und alles vertuschen. Ich war schließlich ein wichtiger Kader: die Ärztin des Generalsekretärs. Als Breschnew gestorben war, wurde ich an eine Kinderklinik nach Bangladesh versetzt, aber ich wurde dauernd beobachtet.
Als ich deine Nachricht erhielt, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Ich bin mitten in der Nacht geflohen; denn wenn ich bis zum nächsten Morgen gewartet hätte, wäre ich verloren gewesen. Ich bin ziemlich sicher, daß sie schon am
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