Die Morgengabe
unwahrscheinlich. Quin
hatte seit Heinis Ankunft kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Weshalb sollte er
auch? Der beschämende Moment, als sie den Stein geworfen hatte, war nicht so leicht
zu vergessen. Es gab Gerüchte über den Professor; daß er ein wildes Leben
führte und sich die Nächte um die Ohren schlug.
Sie begab sich in den Hörsaal, und
als er eintrat, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. «Er sieht aus,
als hätte er die Nacht durchgemacht», sagte Sam. Ruth nickte. Das schmale
Gesicht war blaß, die hohe Stirn gefährlich umwölkt, und irgend jemand schien
stundenlang auf seiner Robe gesessen zu haben.
Doch als er seine Vorlesung begann,
stellte sich der alte Zauber ein. Nur eines hatte sich geändert – sein Abgang.
Mit täuschender Beiläufigkeit bewegte er sich zur Tür, während er seinen
letzten Satz sprach, und war verschwunden. Er als einziger unter den Dozenten
erhielt keinen Dank von Verena Plackett.
Er hatte ihr gesagt, sie könne um zwei Uhr kommen, aber er
hatte sich verspätet, und sie hatte Zeit, sich die Hominidenfrau anzusehen,
die ohne Frances' Schal ein wenig nackt aussah; dann ging sie hinüber zu der
flachen Schale, in der sich aus dem Durcheinander von Reptilienknochen
allmählich eine erkennbare Gestalt herauszubilden begann.
Als Quin ins Zimmer kam, sah er sie
dort stehen und war an Wien erinnert. Ihm schien, sie sähe genauso aus wie
damals: verloren und hoffnungslos. Aber ihm war nicht nach Mitleid zumute. Der
vergangene Abend mit Claudine Fleury war eine unerwartete Enttäuschung gewesen.
Sie kannten sich lange, sie verstanden sich. Sie war zweimal verheiratet
gewesen, lebte jetzt in Mayfair, im luxuriösen Haus ihres Vaters, eines
Konzertagenten, der viel auf Reisen war, eine Französin, wie jedermann sie sich
erträumt: zierlich und dunkeläugig, von erlesener Eleganz.
Der Abend war nach dem gewohnten
Muster abgelaufen: Abendessen bei Rules, Tanzen im Domino und
dann nach Hause zu den Wohltaten ihres intimen Himmelbetts.
Wenn man überhaupt jemandem schuld
geben konnte, dann ihm, das wußte er, und er konnte nur hoffen, daß Claudine
nichts gemerkt hatte. Die Wahrheit war, daß alles, was ihn zu ihr hingezogen
hatte, ihre Erfahrung, ihre innere Distanziertheit, die Tatsache, daß sie die
Liebe nicht allzu ernst nahm, jetzt seinen Zauber verloren hatte. Plötzlich
hatte er das Zusammensein mit ihr als seelenlos empfunden und sich unglaublich
einsam gefühlt.
Ruth, die sein verschlossenes
Gesicht sah, machte sich auf das Schlimmste gefaßt.
«Was kann ich für Sie tun?»
Ruth holte tief Atem. «Sie können
mir verzeihen», sagte sie. Quin zog die Augenbrauen hoch. «Du lieber Gott! Ist
es so schlimm? Was soll ich Ihnen denn verzeihen?»
«Ich sage es Ihnen gleich – nur
versprechen Sie mir bitte, nicht von Freud zu reden, denn das macht mich
schrecklich wütend.»
«Das wird mir wahrscheinlich ganz
leichtfallen», erwiderte er. «Ich schaffe es häufig, ihn monatelang nicht zu
erwähnen. Aber was hat er Ihnen Schlimmes angetan?»
«Er selbst war es eigentlich gar
nicht», antwortete Ruth. «Es war Fräulein Lutzenholler.» Und als Quin sie
verständnislos ansah, erklärte sie: «Sie ist Psychoanalytikerin. Sie kommt aus
Breslau, und sie macht nichts als Ärger. Sie läßt alles anbrennen – sogar harte
Eier, und das ist doch wirklich schwierig –, und dauernd kocht ihre Suppe über
und überschwemmt den ganzen Herd, und meine Mutter ist überzeugt, daß wir nur
ihretwegen Mäuse im Haus haben. Und jeden Abend um halb zehn steigt sie auf
einen Stuhl und klopft an die Zimmerdecke, damit Heini zu üben aufhört. Und
dann wagt sie es noch ...» Ruth konnte vor Entrüstung nicht weitersprechen.
«Was wagt sie?»
«Sie wagt es, mich darüber
aufzuklären, was Freud über das Verlieren von Dingen gesagt hat.»
«Was hat er denn gesagt?»
«Daß wir das verlieren, was wir
verlieren möchten, und das vergessen, was wir vergessen
möchten. Es steht alles in seiner Traumdeutung. Ich hätte ihr ja gar
nicht erzählt, daß ich die Papiere im Bus liegengelassen habe, aber es war
sonst niemand zu Hause, und ich war total außer mir, weil ich schon überall
gewesen war, im Depot und beim Fundbüro. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, was ich im Bus liegengelassen hatte, nur daß es etwas Wichtiges war – und da
untersteht sie sich, mir mit meinem Unbewußten zu kommen – eine Frau, die nicht
mal Suppe kochen kann!»
Quin beugte sich über
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