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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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bestimmt – sie hat sich so auf das Telegramm
vom König gefreut.»
    «Von ihr haben wir auch nicht
gesprochen», sagte Mishak.
    «Jetzt sind wahrscheinlich gerade
die Lämmchen zur Welt gekommen – John Ridley sagte Ende März. Sie haben etwas
Biblisches, wenn man sie dort oben in dieser Landschaft sieht. Überall gibt es
Sonnenröschen; und die Vögel ...» Sie schüttelte den Kopf, aber die Bilder
ließen sich nicht vertreiben. Manchmal glaubte sie, sie würden sie niemals
loslassen.
    «Aber von dem kleinen Hündchen hat
sie mir erzählt», bemerkte Mishak. «Sie behält es und sie haben es Daniel
genannt. Sie sagte, das sollte ich dir erzählen, du würdest es schon
verstehen.»
    «Daniel? Ach ja, natürlich. Nach
Wagners Stieftochter – du weißt schon, Cosima von Bülows Tochter Daniella. Aber
da das Hündchen ein Rüde ist, muß er natürlich Daniel heißen. Er sieht aber
auch aus wie ein Daniel – Gott helfe den Löwen, in deren Höhle er sich wagt. Er
ist wirklich verwegen.»
    Leonie, die dem Gespräch mit
wachsender Verwunderung zugehört hatte, sagte jetzt: «Aber Ruth, du siehst
doch Professor Somerville jeden Tag. Warum fragst du nicht ihn nach diesen
Dingen? Ich meine, ob die alte Großmutter tot ist oder ob die Lämmer schon zur
Welt gekommen sind. Er muß es doch wissen.»
    Ruth errötete. «Ich würde niemals
über Bowmont mit ihm sprechen; das geht mich doch nichts an – und außerdem
arbeitet er dauernd; er hat dieses Semester wahnsinnig viel zu tun.»
    Beschäftigt war er und zerstreut und
gar nicht freundlich ... Und es wurde gemunkelt, er habe vor zu gehen.
    Sie holte sich ihre Bücher und
Hefte, aber ehe sie sich an die Arbeit setzen konnte, ging die Tür auf, und
Heini kam herein. Es war Viertel vor zehn, zu spät für ihn, um noch zu üben,
ohne sich den ewigen Zorn Fräulein Lutzenhollers zuzuziehen; darum setzte er
sich, ohne Ruth anzusehen, mißmutig aufs Sofa. Zwei Wochen waren seit dem
Stelldichein in Janets Wohnung vergangen, und er hatte ihr noch immer nicht
richtig verziehen, doch Ruth, die nun hinausging, um ihm eine Tasse Kakao zu
machen, wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Denn nicht nur Mishak und Leonie
hatten aus Frances Somervilles Besuch gelernt. Ruth selbst hatte tieferen Einblick in ihre Seele gewonnen, als
ihr lieb war – und jetzt mußte sie handeln.
    Das bedeutete, daß sie ihre
Denkweise ändern mußte. Das bedeutete, daß sie ihre Großmutter, die
Ziegenhirtin, verstoßen und auf die Tröstungen des katholischen Glaubens ihrer
Mutter verzichten mußte. Es bedeutete, daß sie dem Jesuskind in der Krippe und
den holden Engeln Lebewohl sagen und sich auf ihr anderes Erbe besinnen mußte:
auf den strengen, uralten und mysteriösen jüdischen Glauben, in dem das Wort
des Rabbiners Gesetz war, in dem der Gott der zehn Gebote und nicht jener der
Bergpredigt der Herr war. In diesem Glauben würde sie von ihrer Unfähigkeit
geheilt werden und zu Heini zurückfinden. Sie hatte sich nicht recht zu ihrer
Verwandtschaft mit diesen schwarzbärtigen Leuten mit ihren Käppchen bekennen
wollen – den Chassidim, die in tiefer Armut die polnischen Wälder
durchstreiften, bei denen schon die Dreizehnjährigen lernen und beten mußten
wie alte Männer. Und doch würde sie einzig in der Tradition eben dieser Leute
die Erlösung finden.
    Die Gesetze Englands hatten sie im
Stich gelassen – Mr. Proudfoot konnte Heini nicht geben, was er brauchte, aber
es gab andere, ältere Gesetze, auf die sie zurückgreifen konnte.
    Sie würde Mut dazu brauchen – sehr
viel Mut –, aber sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte.

25
    Sie bemühte sich, nicht zu laufen, sondern
ruhigen, gemessenen Schrittes zu gehen, aber das war unmöglich. Sie mußte sich
beeilen. Sie mußte Quins Wohnung erreichen, solange ihre Entschlossenheit noch
hielt. Sie ging am Fluß entlang, auf einem Weg zwischen der Themse und der
Straße. Die Lampen waren gerade angezündet worden, ihr Licht spiegelte sich im
Wasser.
    «O Gott, mach, daß er da ist»,
betete sie. «Mach, daß er da ist und daß er allein ist.»
    Aber welches Recht hatte sie
überhaupt zu beten? Sie war nicht einmal eine richtige Sünderin, die verlangen
konnte, vom Allmächtigen gehört zu werden; sie war eine Versagerin, kalt und
gefühllos. Gott haßte die kleinen Seelen, dessen war sie sicher. Oder würde er
sie vielleicht einfach als eine Kranke ansehen und doch auf ihre Gebete hören?
    Es regnete, seit sie aus der
Untergrundbahn gekommen war; ein

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