Die Morgengabe
Aufzeichnungen, die er in Wien
zurückgelassen hatte, nur eine Travestie dessen werden konnte, was er hätte
schreiben können. Tante Hilda, die entdeckt hatte, daß der Eintritt ins
Britische Museum frei war, spazierte stundenlang in der anthropologischen
Abteilung umher und stieß (unter den Exponaten aus Betschuanaland) auf
einen Fehler, der sie in höchste Erregung und Bekümmerung versetzte.
«Es ist kein Trinkbecher der Mi-Mi»,
sagte sie jeden Abend wieder. «Da bin ich ganz sicher. Das ist eine falsche
Zuschreibung.»
«Dann sag es den Leuten dort,
Hilda», pflegte Leonie ihr zu raten.
«Nein, nein, das kann ich nicht. Ich
bin in diesem Land nur zu Gast. Zu so etwas habe ich kein Recht.»
Onkel Mishak hatte jetzt seine
Stammplätze in diversen Parks und Freunde unter den Londoner Stadtgärtnern.
Häufig brachte er abends, stolz wie ein kleiner Junge, irgendeinen besonderen
Schatz mit nach Hause: ein Büschel noch duftenden Goldlacks, den man auf den
Kompost geworfen hatte; eine Handvoll Kirschen, die von einem überhängenden Ast
auf die Straße heruntergefallen waren.
Leonie ihrerseits begann, als sie
endlich an das Wunder von Ruths glücklicher Heimkehr glauben konnte, die
Verbindungen zu Freunden und Verwandten neu zu knüpfen, die in Wien an ihrem
Leben Anteil gehabt hatten. Mochten sie auch in alle Winde verstreut sein, so
fanden sich doch einige in ihrer Nähe: die Schwester ihrer Patentante zum
Beispiel, die vor kurzem in Swiss Cottage angekommen war; eine Schulfreundin,
die in Putney mit einem Buchbinder verheiratet war; ein uralter Stiefonkel aus
Mähren, der, im Kopf nicht mehr ganz richtig, unter dem Standbild der Königin
Victoria am Embankment zu sitzen pflegte und sich einbildete, es sei die Statue
Maria Theresias und er befände sich noch in Wien.
Was die Damen vom Tea-Room Willow anging, so reagierten sie auf die Verschärfung der Situation auf dem
Kontinent mit einer Geste, die großen Wagemuts bedurfte. Sie beschlossen, in
Zukunft ihr Lokal auch abends geöffnet zu lassen – bis neun Uhr, einer geradezu
sündhaft späten Stunde. Das hieß jedoch, daß sie eine neue Kellnerin brauchten,
und da hatten sie großes Glück.
Ruths erste Sorge nach ihrer Ankunft
war es gewesen, ihre Heiratsurkunde und alle anderen Beweise ihrer Verbindung
zu Quinton Somerville, dem sie jetzt nur noch gefällig sein konnte, indem sie ihn verschwieg, zu
verstecken. Das allerdings bereitete ihr gewisse Schwierigkeiten: zum einen
hatte sie nie vorher Geheimnisse vor ihren Eltern gehabt; und zum andern fehlte
es im Haus Belsize Close 27 an stillen Eckchen. Glücklicherweise hatte Ruth
viele englische Abenteuergeschichten gelesen, in denen beherzte Jungen und
Mädchen geheime Schätze unter losen Dielenbrettern der Häuser, in denen sie
jeweils wohnten, versteckten. An die soliden Parkettböden ihrer Heimatstadt
gewöhnt, hatte sie das sehr sonderbar gefunden, aber jetzt begriff sie, wieso
es möglich war. Der Boden des mit einem durchgesessenen Mokettsofa, einem
schweren Eichentisch und braunen Chenillevorhängen grauenvoll möblierten
Wohnzimmers war mit Linoleum ausgelegt, und das anschließende Schlafzimmer
ihrer Eltern kam natürlich als Versteck nicht in Frage. Aber das Hinterzimmer
mit den zwei schmalen Betten, das Ruth mit Tante Hilda teilte, hatte einen
Holzfußboden, auf dem nur ein schmutziger Flickenteppich lag. Nachdem sie den
Waschtisch weggerückt hatte, gelang es ihr, eines der morschen Dielenbretter
herauszuheben und einen Raum zu schaffen, in dem sie die mit einem Bild der
Prinzessinnen Elisabeth und Margaret Rose geschmückte Keksdose, die ihre
Papiere und den Ehering enthielt, verschwinden ließ. Den Ehering beabsichtigte
sie zu verkaufen, aber noch nicht gleich.
Als nächstes mietete sie beim
Postamt ein Schließfach, dessen Nummer sie Mr. Proudfoot mitteilte. Dann ging
sie auf Arbeitssuche. Sie hatte zwar Quins Ermahnungen noch im Ohr und freute
sich darauf, ihr Studium fortzusetzen, aber bis zum Beginn des Wintersemesters
am University College waren es noch fast zwei Monate, und in dieser Zeit wollte
sie nach besten Kräften zum Unterhalt ihrer Familie beitragen.
Es war nicht schwer, Arbeit als
Kindermädchen zu finden. Keine Woche dauerte es, da marschierte Ruth täglich
mit den drei progressiv erzogenen Kindern einer Weberin durch Hampstead.
Unbeeindruckt von modernen Erziehungstheorien, konnte sie die blassen,
verwirrten, in schmutzige Leinenkittel gekleideten kleinen Dinger nur
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