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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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bedauern,
die verzweifelt etwas zu tun suchten, was ihnen endlich einmal verboten war.
Als der mittlere der drei, ein sechsjähriger Junge, ohne zu fragen über eine
verkehrsreiche Straße rannte, gab sie ihm einen kräftigen Klaps aufs Bein und
löste damit augenblicklichen Aufruhr unter seinen Geschwistern aus.
    «Mach das bei uns auch. Aber
richtig», sagte der Älteste. «So daß man den Abdruck sehen kann. Wie bei
Peter.»
    Ruth tat ihnen den Gefallen, und
bald wurden die täglichen Spaziergänge im Park viel lustiger, aber die
Bezahlung war natürlich nicht sehr gut. Ruths Ankündigung, daß sie in Zukunft
abends im Willow bedienen werde, brachte Leonies heiligmäßige Periode
der Güte und der Langmut zu einem abrupten Ende.
    Tagelang hatte sie sich nach Ruths
Heimkehr an ihr Gelöbnis gehalten, nie wieder mit ihrer Tochter zu streiten,
nie wieder ein böses Wort zu ihr zu sagen. Nur schon die Hand auszustrecken und
über den Tisch hinweg Ruth berühren, sie in der Badewanne singen hören zu
können, war ein Glück, das auch den kleinsten Streit mit Ruth verbot. Dies
jedoch war zuviel.
    «Du wirst nichts dergleichen tun!»
schrie sie erregt. «Meine Tochter nimmt keine Trinkgelder und läßt sich nicht
von lüsternen alten Männern in den Po kneifen.»
    Aber Ruth gab nicht nach. «Wenn Paul
Ziller sich sein Geld als Stehgeiger verdienen kann, kann ich auch bedienen.
Und überhaupt – du brauchst zu reden! Wer bügelt denn dieser ekelhaften Alten
von gegenüber jede Woche die ganze Wäsche?»
    Leonie behauptete, das sei etwas
ganz anderes, und suchte bei den Stammgästen des Willow Unterstützung,
die sie jedoch nicht bekam.
    «Wenn das Studium anfängt, ist das
natürlich eine andere Sache, aber jetzt möchte sie eben helfen, das ist doch
verständlich», sagte Ziller und meinte genau wie Dr. Levy und von Hofmann und
der Bankier aus Hamburg, daß er keinen Grund sah, auf das Vergnügen zu
verzichten, abends hin und wieder von diesem frischen jungen Mädchen mit dem
leuchtenden Haar bedient zu werden.
    Ruth wurde also Kellnerin im Willow und tat dem Geschäft ohne Zweifel gut. Den müden, desillusionierten
Emigranten war Ruth ein Zeichen, daß es auf der Welt doch noch Hoffnung gab.
Sie war auf mysteriöse Weise von einem Engländer gerettet worden, und das an sich schon war eine Tatsache,
die Zuversicht erlaubte. Außerdem war Ruth nicht nur jung und hübsch und
lustig, sondern sie war auch verliebt.
    «Ich habe einen Brief bekommen!»
jubelte sie, und bald wußten alle im Willow von Heini, jeder erkundigte
sich nach ihm. Die Nachricht, daß Heini nun sehr bald sein Visum bekommen
würde, freute sie alle so sehr, als handelte es sich um ihr eigenes Glück – und
sie verstanden, daß Heini unbedingt ein Klavier haben mußte, wenn er kam.
    Über der Sache mit Heinis Klavier warf
Leonie schließlich die letzten Reste heiligmäßiger Duldsamkeit über Bord, an
denen sie bisher noch festgehalten hatte. Es gab nämlich nur einen Ort, an dem
man es überhaupt aufstellen konnte: im sogenannten Wohnzimmer der Familie
Berger – und Leonie hatte völlig recht, als sie sagte, daß man sich dann in dem
Zimmer kaum noch um die eigene Achse drehen könnte.
    «Er kann meinetwegen hier auf dem
Sofa schlafen, bis er etwas Eigenes gefunden hat, aber Heini und das Klavier – sei doch vernünftig,
Ruth!»
    Aber wann hat Liebe je Vernunft
gekannt? Leonie beriet sich mit ihrem Mann, überzeugt, er werde mit der
gewohnten Strenge reagieren. Doch die Tage der Angst um die verloren geglaubte
Ruth hatten Kurt Berger verändert.
    «Es wird schon irgendwie gehen»,
sagte er. «Ich arbeite ja sowieso in der Bibliothek, und wir können einen der
Sessel zu uns ins Schlafzimmer stellen.»
    So hatte Ruth nun also auf das
Fensterbrett ein Marmeladenglas mit der Aufschrift «Heinis Klavier» gestellt.
Es war ein britisches Marmeladenglas, das einmal Oxford Orangenmarmelade
enthalten und das sie aus der Mülltonne der Kindergärtnerin im Parterre
gefischt hatte, aber leider füllte es sich nicht gerade mit rasender
Geschwindigkeit. Ruth hatte sich erkundigt, wie hoch die Anzahlung für ein Klavier
von der Art, wie Heini es benötigte, war. Sie betrug 2 Guineen; dazu kamen die
wöchentlichen Mietgebühren und der Transportpreis. Was sie als Kindermädchen
bei der fortschrittlichen Weberin verdiente, gab sie ihrer Mutter; das Geld
vom Tea-Room hatte sie eigentlich sparen
wollen, aber immer gab es irgendeinen Notfall: Tante Hilda

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