Die Mumie
heulenden Wüstenwind. In weiter Ferne sah sie das erleuchtete Zelt ihres kleinen Lagers, das auf sie wartete. Sie sah das Licht der Laterne hinter dem halbdurchlässigen Leinen. Das winzige Lagerfeuer tanzte im Wind, flackerte, um dann wieder aufzulodern.
Sie betraten den Tempel, indem sie an den riesigen Beinen des Gottkönigs vorbeigingen. Falls Ramses Tränen in den Augen hatte, trug der Wind sie fort, aber sein Seufzen war deutlich zu hören. Sie spürte auch das leise Zittern seiner warmen Hand, als sie sich an ihn klammerte.
Hand in Hand gingen sie weiter, während ihre Blicke über die großen Statuen schweiften.
»Wohin bist du gegangen«, flüsterte sie, »als du nicht mehr regiert hast? Du hast Meneptah den Thron überlassen und bist fortgegangen…«
»In die Welt hinaus. So weit, wie ich den Mut hatte zu gehen.
So weit sich je ein sterblicher Mensch gewagt hatte. Damals sah ich die dichten Wälder von Britannien. Die Menschen trugen Felle und versteckten sich in den Bäumen, wo sie ihre Holzpfeile abschossen. Ich ging in den Fernen Osten und entdeckte Städte, die heute verschwunden sind. Mir wurde gerade klar, daß das Elixier mein Gehirn ebenso beeinflußte wie meinen Körper. Sprachen konnte ich innerhalb von Tagen lernen. Ich konnte mich… wie sagt man… anpassen. Aber unweigerlich kam es zu… Verwirrungen.«
»Wie meinst du das?« fragte sie. Sie waren stehengeblieben.
Sie standen auf festgestampftem Sand. Das sanfte Licht der Sterne beleuchtete sein Gesicht, als er auf sie herabsah.
»Ich war nicht mehr Ramses. Ich war kein König mehr. Ich hatte kein Reich.«
»Ich verstehe.«
»Ich sagte mir, daß die Welt selbst alles war. Was brauchte ich mehr, als zu wandern, zu sehen? Aber das stimmte nicht.
Ich mußte nach Ägypten zurückkehren.«
»Und da wolltest du sterben.«
»Ich begab mich zum Pharao, zu Ramses dem Dritten, und sagte ihm, ich wäre ihm als Schutzpatron gesandt worden.
Das war, nachdem ich erfahren hatte, daß kein Gift mich töten konnte. Nicht einmal Feuer könnte mich töten. Es konnte mir unerträgliche Schmerzen bereiten, aber nicht töten. Ich war unsterblich. Das war die Macht des Elixiers. Unsterblich!«
»Wie grausam«, seufzte sie. Aber es gab vieles, das sie immer noch nicht verstand, und sie wagte nicht, ihn zu fragen.
Sie wartete geduldig darauf, daß er es ihr sagen würde.
»Nach meinem tapferen Ramses dem Dritten gab es viele andere. Große Königinnen und Könige. Ich kam, wenn es mir gefiel. Damals war ich eine Legende – das menschliche Phan-tom, das nur zu den Herrschern Ägyptens sprach. Wenn ich auftauchte, betrachtete man das als großen Segen. Und ich hatte selbstverständlich mein geheimes Leben. Ich durchstreif-te die Straßen von Theben als gewöhnlicher Mann, suchte mir Gefährten, Frauen.«
»Aber niemand kannte dich oder dein Geheimnis?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie du es ertragen konntest.«
»Nun, ich konnte es nicht mehr ertragen«, sagte er niedergeschlagen. »Daher habe ich es schließlich in den Schriftrollen niedergeschrieben, die dein Vater in meinem geheimen Arbeitszimmer gefunden hat. Aber damals war ich ein tapferer Mann. Und ich wurde geliebt, Julie. Das darfst du nicht vergessen.«
Er verstummte, als lauschte er dem Wind.
»Ich wurde verehrt«, fuhr er fort. »Es war, als wäre ich gestorben und zu dem geworden, was ich vorgab zu sein. Hüter des königlichen Hauses. Beschützer des Herrschers, Richter der Bösen. Zum Wohle des Königreichs.«
»Werden nicht auch Götter einsam?«
Er lachte leise.
»Du kennst die Antwort. Aber du verkennst die Macht des Elixiers, das mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Auch ich verstehe sie nicht völlig. Wenn ich an den Wahn der ersten Jahre denke, als ich wie ein Arzt damit experimentierte.« Sein Gesicht zeigte Bitterkeit. »Diese Welt zu begreifen, das ist unsere Aufgabe, oder nicht? Und selbst die einfachsten Dinge entziehen sich unserem Verständnis.«
»Ja, ich widerspreche dir nicht«, flüsterte sie.
»In den schlimmsten Augenblicken vertraute ich auf die Veränderung. Ich verstand sie, auch wenn die anderen um mich herum sie nicht verstanden. ›Alles ist vergänglich‹, das alte Sprichwort. Aber schließlich war ich so… erschöpft. So mü-
de.«
Er legte den Arm um sie und zog sie zärtlich an sich. Dann machten sie kehrt und verließen den Tempel. Der Wind hatte sich gelegt. Er wärmte sie. Nur ab und zu mußte sie die Augen vor winzigen
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