Die Mumie
das Geheimnis zu entlok-ken. Ich übergab ihm das Königreich und kehrte Ägypten für Jahrhunderte den Rücken. Aber ich wußte, was das Wissen anrichten konnte. Erst Jahrhunderte später habe ich Kleopatra davon erzählt.«
Er blieb stehen. Sie verstand, daß er nicht weitergehen wollte.
Die Schmerzen, die er in Alexandria erfahren hatte, waren wieder da. Das Licht in seinen Augen war erloschen. Schweigend gingen sie zur Sänfte zurück.
»Julie, laß uns diese Reise schnell beenden«, sagte er. »Morgen das Tal der Könige, und dann segeln wir wieder nach Sü-
den.«
Sie brachen am frühen Morgen auf, ehe die Sonne auf sie niederbrannte. Julie nahm Elliotts Arm. Ramses redete wieder und beantwortete alle Fragen, die Elliott ihm stellte. Sie schlenderten gemächlich zwischen entweihten Gräbern hindurch, wo sich Touristen, Fotografen und lautschreiende Händler in schmutzigen gellebiyyas in Massen tummelten.
Julie litt bereits unter der Hitze. Ihr großer, breiter Strohhut nützte nicht viel, sie mußte Pause machen und tief Luft holen.
Der Geruch von Kameldung und Urin raubte ihr fast die Sinne.
Ein Händler kam dicht heran, und als sie auf ihn hinabsah, erblickte sie eine schwarze Hand, deren Finger an die Beine einer Spinne erinnerten.
Sie schrie auf.
»Scher dich fort!« sagte Alex grob. »Diese Eingeborenen sind unerträglich.«
»Mumienhand!« kreischte der Händler. »Mumienhand, sehr alt!«
»Aber sicher«, lachte Elliott. »Stammt wahrscheinlich aus einer Mumienfabrik in Kairo.«
Aber Ramses starrte wie gebannt auf den Händler und die Hand. Plötzlich erstarrte der Händler, in seinem Gesicht spiegelte sich Entsetzen. Ramses griff nach der verdorrten Hand, der Händler ließ sie los, sank auf die Knie und kroch dann rückwärts aus dem Weg.
»Was soll das?« sagte Alex. »Sie wollen doch dieses Ding nicht etwa kaufen?«
Ramses betrachtete die Hand, an der noch kleine Stoffetzen hafteten.
Julie wußte nicht zu sagen, was los war. War er erbost über den Frevel? Oder übte das Ding eine andere Faszination auf ihn aus? Eine Erinnerung überkam sie: die Mumie im Sarg in der Bibliothek ihres Vaters. Und dieses lebende Geschöpf, das sie liebte, war diese Mumie gewesen. Es schien, als wären Jahrhunderte seitdem vergangen.
Elliott verfolgte aufmerksam die Geschehnisse.
»Was ist es, Sire?« fragte Samir leise. Hatte Elliott ihn gehört?
Ramses holte mehrere Münzen heraus und warf sie für den Händler in den Sand. Der Mann sammelte sie ein und rannte davon. Jetzt holte Ramses ein Taschentuch heraus, wickelte die Hand fein säuberlich darin ein und steckte beides in die Tasche.
»Was haben Sie gesagt?« fragte Elliott höflich, so als wäre nichts geschehen. »Ich glaube, Sie sagten, das beherrschende Thema unserer Zeit sei die Veränderung?«
»Ja«, sagte Ramses mit einem Seufzen. Er schien das Tal in einer völlig neuen Perspektive zu sehen. Er betrachtete die offenen Gräber und die Hunde, die in der Sonne dösten.
Elliott fuhr fort: »Und das beherrschende Thema der Antike war, daß alles bleibt, wie es ist.«
Nur Julie sah die feine Veränderung des Gesichtsausdrucks, die Verzweiflung. Doch während sie weitergingen, antwortete er Elliott gelassen.
»Ja, damals wurde überhaupt nicht von Fortschritt gesprochen. Aber damals hatte man auch eine andere Vorstellung von Zeit. Mit der Geburt eines jeden Königs begann eine neue Zeitrechnung. Das wissen Sie natürlich. Man zählte keine Jahrhunderte. Ich bin nicht sicher, ob der einfache Ägypter überhaupt eine genaue Vorstellung hatte… von Jahrhunderten.«
Abu Simbel. Endlich hatten sie den größten von Ramses’
Tempeln erreicht. Der Landausflug war wegen der Hitze kurz gewesen. Jetzt wehte der kalte Nachtwind über die Wüste.
Julie und Ramses stiegen heimlich über die Strickleiter in das Beiboot hinab. Julie hatte den Schal fest um die Schultern geschlungen. Der Mond hing tief über dem glitzernden Wasser.
Mit Hilfe eines eingeborenen Dieners stiegen sie auf die Kamele, die auf sie warteten, und ritten zum großen Tempel, wo die größte Statue von Ramses dem Großen stand.
Es war aufregend, dieses verrückte, furchteinflößende Tier zu reiten. Julie lachte in den Wind. Sie wagte nicht, auf den Boden zu sehen, der sich ungleichmäßig unter ihr bewegte. Sie war froh, als sie am Ziel waren und Ramses ihr herunterhalf.
Der Diener führte die Tiere weg. Jetzt standen sie beide allein unter dem Sternenhimmel im leise
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