Die Mumie
entziffern.
»Samir«, rief er. »Ich brauche Licht.«
»Ja, Lawrence.« Sofort leuchtete eine Fackel hinter ihm auf; in dem hellen gelben Licht war die Steinplatte wunderbar zu sehen. Ja, Hieroglyphen, tief eingeschnitten und kostbar vergoldet und in italienischem Marmor. Dieser Anblick war einmalig.
Er spürte die heiße, seidenweiche Berührung von Samirs Hand auf seiner, als er laut zu lesen anfing:
»›Diebe, die ihr die Toten bestehlt, wendet euch von diesem Grabe ab, damit ihr seinen Besitzer nicht weckt, dessen Zorn nicht Einhalt geboten werden kann. Ramses der Verdammte ist mein Name.‹«
Er sah Samir an. Was konnte das bedeuten?
»Weiter, Lawrence, übersetzen Sie, Sie sind viel schneller als ich«, sagte Samir.
»›Ramses der Verdammte ist mein Name. Einstmals Ramses der Große von Ober- und Unterägypten; Bezwinger der Hetiter, Erbauer von Tempeln; vom Volke geliebt; unsterblicher Wächter der Könige und Königinnen von Ägypten durch alle Zeiten. Im Jahr des Todes der großen Königin Kleopatra, während Ägypten zur römischen Provinz wurde, überantworte ich mich der immerwährenden Dunkelheit; mögen sich alle hüten, die die Strahlen der Sonne durch diese Tür einlassen wollen.‹«
»Aber das ergibt keinen Sinn«, flüsterte Samir. »Ramses der Große hat tausend Jahre vor Kleopatra geherrscht.«
»Ja, dies sind ohne Frage Hieroglyphen der neunzehnten Dynastie«, gab Lawrence zurück. Er scharrte ungeduldig loses Geröll beiseite. »Und sehen Sie, die Inschrift wird wiederholt –
in Latein und Griechisch.« Er verstummte, dann las er rasch die letzten Zeilen in Latein.
»›Seid gewarnt: Ich schlafe, wie die Erde unter dem Nachthim-mel oder dem Schnee des Winters schläft; werde ich geweckt, bin ich keines Menschen Diener.‹«
Einen Augenblick war Lawrence sprachlos und betrachtete die Worte, die er gerade gelesen hatte. Kaum daß er Samir sagen hörte:
»Das gefällt mir gar nicht. Was immer es bedeutet, es ist ein Fluch.«
Lawrence drehte sich widerwillig um und sah, daß aus Samirs Argwohn Angst geworden war.
»Der Leichnam von Ramses dem Großen befindet sich im Museum von Kairo«, sagte Samir ungeduldig.
»Nein«, antwortete Lawrence. Er spürte, wie sich ihm langsam die Nackenhaare sträubten. »Im Museum von Kairo ist ein Leichnam, aber nicht der von Ramses! Sehen Sie sich die Kartuschen an, das Siegel! Zur Zeit Kleopatras gab es niemanden, der die alten Hieroglyphen auch nur schreiben konnte. Und die hier sind perfekt – und wie das Lateinische und Griechische mit unendlicher Sorgfalt ausgeführt.«
Oh, wenn nur Julie hier wäre, dachte Lawrence wehmütig.
Seine Tochter Julie hatte vor nichts Angst. Sie hätte die Bedeutung dieses Augenblicks sofort erkannt. Er stolperte fast, als er sich aus dem Durchgang zurückzog und die Fotografen aus dem Weg winkte. Wieder leuchteten die Blitzlichter rings um ihn herum auf. Einige Reporter begaben sich eilig zu der Marmortür.
»Das Grabungsteam soll sich wieder an die Arbeit machen«, rief Lawrence. »Ich möchte, daß der Durchgang bis zur Schwelle freigelegt wird. Ich betrete noch heute nacht diese Gruft.«
»Lawrence, Sie sollten sich Zeit lassen«, warnte Samir. »Wir haben es hier mit etwas zu tun, das sorgfältig überlegt sein will.«
»Samir, Sie verblüffen mich«, antwortete Lawrence. »Wir suchen seit zehn Jahren in diesen Bergen nach einer solchen Entdeckung. Und diese Tür hat niemand mehr angerührt, seit sie vor zweitausend Jahren versiegelt worden ist.«
Er drängte sich fast wütend zwischen den Reportern hindurch, die ihn gerade eingeholt hatten und ihm den Weg versperrten.
Er brauchte Ruhe in seinem Zelt, bis die Tür freigelegt wurde; er brauchte sein Tagebuch, seinen einzigen angemessenen Vertrauten für die Aufregung, die er empfand. Plötzlich war ihm nach der Hitze des langen Tages schwindlig.
»Jetzt keine Fragen mehr, meine Damen und Herren«, sagte Samir höflich. Samir stellte sich wie immer zwischen Lawrence und die Wirklichkeit.
Lawrence hastete den unebenen Weg entlang, knickte sich schmerzhaft den Knöchel um, ging aber dennoch weiter und kniff die Augen zusammen, als er hinter den flackernden Fak-keln die schwermütige Schönheit der hell erleuchteten Zelte unter dem violetten Abendhimmel sah.
Nur noch eines stellte sich zwischen ihn und die sichere Zone seines Klappstuhls und Schreibtisches: der Anblick seines Neffen Henry, der aus kurzer Entfernung alles müßig beobachtete. Henry,
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