Die Mumie
Elliott. Einen Moment lang sagten beide kein Wort, dann lächelte Alex sein altbekanntes herziges Lä-
cheln.
»Nun, Vater«, sagte er langsam, »ich freue mich schon auf Kairo und die Zivilisation.«
»Du bist ein guter Junge, mein Sohn«, sagte Elliott leise.
Wahrscheinlich wußten alle Bescheid. Sie lag unter der warmen Decke neben Ramses, während der kleine Dampfer wieder nach Norden, Richtung Kairo fuhr.
Doch sie ließen sich nichts anmerken. Er kam und ging nur, wenn niemand in der Nähe war. Sie tauschten keine Zärtlich-keiten vor den anderen aus. Und doch genossen sie die Freiheit, die sie gestohlen hatten. Sie liebten sich bis zum Morgen, küßten sich, liebkosten sich, paarten sich in der Dunkelheit, während die Schiffsmotoren sie immer weiter trugen.
Mehr konnten sie nicht verlangen. Und doch wollte sie mehr.
Sie wollte alle los sein, außer ihn. Sie wollte seine Frau sein, oder unter Menschen, die keine Fragen stellen. Sie wußte, daß sie in Kairo ihre Entscheidung treffen würde. Und sie wuß-
te, sie würde England erst dann wiedersehen, wenn Ramses es wünschte.
Vier Uhr. Ramses stand neben dem Bett. Im Schlaf war sie unbeschreiblich schön, das braune Haar ausgebreitet auf dem weißen Kopfkissen. Behutsam deckte er sie zu.
Er zog den Geldgürtel unter Mantel und Hose hervor, faßte nach den vier Phiolen, die dort sicher verwahrt waren, legte ihn wieder um die Taille, knöpfte ihn zu und zog sich rasch an.
Niemand an Deck. Aber im Salon brannte Licht. Als er durch die Ritzen der Holzläden sah, sah er Elliott, der im ledernen Ohrensessel schlief, ein offenes Buch auf den Knien und ein halbvolles Glas Wein neben sich.
Sonst sah er niemanden.
Er ging in seine Kabine, schloß die Tür ab und verriegelte die schmalen Holzläden. Dann begab er sich an seinen Schreibtisch, schaltete die Lampe mit dem grünen Schirm ein, setzte sich auf den Holzstuhl und betrachtete die Mumienhand, die vor ihm lag. Die Finger waren fast bis zur Handfläche ge-krümmt und die Fingernägel erinnerten an gelbes Elfenbein.
Hatte er genügend Mut für sein Vorhaben? Hatte er in der Vergangenheit nicht genügend dieser gräßlichen Experimente durchgeführt? Aber er mußte es wissen. Er mußte wissen, wie wirksam es war. Er sagte sich, daß er auf Laboratorien und auf Ausrüstung warten mußte, daß er damit warten mußte, bis er die Chemielehrbücher gelesen und sich Fachwissen angeeignet hatte.
Aber er wollte es jetzt wissen. Im Tal der Könige hatte sich der Gedanke seiner bemächtigt, als er die Hand gesehen hatte, die ledrige, verschrumpelte Hand. Keine Fälschung. Das wuß-
te er. Er hatte es sofort gewußt, als er das Stück Knochen untersucht hatte, das aus dem abgetrennten Handgelenk herausragte, sofort, als er das schwarze Fleisch gesehen hatte, das daran haftete.
So uralt wie er.
Er schob die Biologiebücher beiseite und legte das Ding direkt unter die Lampe. Dann wickelte er die Bandagen langsam auf.
Da konnte er ganz schwach das Zeichen des Einbalsamierers sehen – ägyptische Zeichen, die ihm verrieten, daß das Ding aus einer Dynastie vor seiner Zeit stammte. Die arme tote Seele, die an die Götter und die Hersteller von Leinenbandagen geglaubt hatte.
Tu es nicht. Und doch griff er in sein Hemd, griff in den Gürtel, holte die halbvolle Phiole heraus und machte ganz automa-tisch die Verschlußkappe mit dem Daumen auf.
Er goß das Elixier über das schwarze Ding. Goß es in die Handfläche und auf die steifen Finger.
Nichts.
War er erleichtert? Oder enttäuscht? Einen Augenblick lang wußte er keine Antwort. Er sah zum Fenster, wo die fahle Dämmerung hinter den Läden sichtbar wurde und schmale helle Fugen erzeugte. Vielleicht wirkte das Elixier nur in Verbindung mit dem Sonnenlicht. Dem war jedoch nicht so gewesen, als er mit der Priesterin in der Höhle gestanden hatte. Er hatte die Macht der Alchemie verspürt, bevor die Sonnenstrahlen auf ihn gefallen waren. Natürlich hatten diese die Wirkung verstärkt. Und ohne sie wäre er innerhalb weniger Tage in tiefen Schlaf versunken. Aber ganz am Anfang hatte er sie nicht gebraucht.
Er dankte den Göttern, daß es bei einem uralten toten Ding nicht wirkte. Dankte, daß das gräßliche Elixier seine Grenzen hatte.
Er zog eine Zigarre heraus und zündete sie an und sog den Rauch ein. Er goß ein wenig Brandy in ein Glas und nippte daran.
Langsam wurde das Zimmer um ihn herum hell. Er wollte wieder in Julies Armen sein. Aber bei Tage ging
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