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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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betrachtete die Ruine.
    In der kühlen, stillen Morgenluft ließ er seine Gedanken zu einer Zeit zurückwandern, als ihm alle Antworten einfach erschienen waren, als er, der tapfere König, ein Leben mit einem raschen Hieb seines Schwerts oder der Streitaxt genommen hatte. Als er die Priesterin in der Höhle erschlagen hatte, damit niemand sonst das große Geheimnis erfuhr.
    Tausend Mal hatte er sich gefragt, ob das nicht seine erste und schrecklichste Sünde gewesen war – das unschuldige alte Weib zu töten, deren Gelächter ihm noch in den Ohren hallte.
    Ich bin nicht närrisch genug, das zu trinken.
    War er deswegen verdammt? Ein Wanderer auf der Erde wie der biblische Kain, erfüllt von einer großen, ewigen Lebenskraft, die ihn für alle Zeiten von anderen Menschen unterschied?
    Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er es nicht mehr ertrug, der einzige zu sein. Er hatte einen Fehler gemacht und er würde wieder einen machen. Das war jetzt eine Gewißheit.
    Aber was, wenn seine Isolation beabsichtigt war? Und jeder Versuch, ihr zu entkommen, mit einer derartigen Katastrophe enden würde?
    Er legte eine Hand auf den rauhen Stein der Sphinxpfote. Der Wind wirbelte den Sand, der hier tief und weich war, empor, zerrte an Ramses Gewand und schmerzte ihn in den Augen.
    Wieder sah er zu dem verunstalteten Gesicht hinauf. Er dachte an die Zeit zurück, als er anläßlich von Pilgerfahrten und Prozessionen hierher gekommen war. Er hörte die Flöten, die Trommeln. Er roch wieder den Weihrauch und hörte die leisen, rhythmischen Beschwörungen.
    Jetzt sprach er sein eigenes Gebet, aber in der Sprache und Weise jener Zeit, was ihm einen süßen, kindlichen Trost spen-dete.
    »Gott meiner Väter, meines Landes. Schau voll Vergebung auf mich herab. Zeig mir den Weg, zeig mir, was ich tun muß, um der Natur zurückzugeben, was ich genommen habe. Oder muß ich in aller Demut fortgehen, weinen und bekennen, daß ich genug gefehlt habe? Ich bin kein Gott. Ich weiß nichts von der Schöpfung. Und wenig von Gerechtigkeit.
    Aber eines ist sicher. Diejenigen, die uns alle geschaffen haben, wissen auch wenig von Gerechtigkeit. Und was sie wissen, mächtige Sphinx, ist wie deine Weisheit. Ein großes Geheimnis.«

    Das große, graue Shepheard Hotel schien im zunehmenden Licht, als Samir und Ramses daraufzugingen, noch dunkler und kompakter – zwei Gestalten in wallenden Gewändern, die sich schnell und lautlos bewegten.
    Ein schwerfälliger schwarzer Lastwagen fuhr vor ihnen in die Einfahrt. Fest geschnürte Zeitungsbündel wurden auf den Boden geworfen.
    Samir nahm rasch eine aus dem ersten Bündel, bevor Bedienstete des Hotels die anderen hineintrugen. Er tastete in der Tasche nach einer Münze und gab sie einem der Jungen, der kaum darauf achtete.

    EINBRUCH UND MORD IN
    DAMENBEKLEIDUNGSGESCHÄFT

    Ramses sah die Schlagzeile.
    Die beiden Männer sahen einander an.
    Dann entfernten sie sich von dem schlafenden Hotel und machten sich auf die Suche nach einem Café, wo sie zu so früher Morgenstunde sitzen und über diese schlimme Neuigkeit nachdenken und überlegen konnten, was zu tun war.

    Sie schlug die Augen auf, als die ersten Sonnenstrahlen durch die dünnen Vorhänge drangen. Wie wunderschön sie aussahen, die Arme der Gottheit, die nach ihr griffen.
    Wie dumm die Griechen gewesen waren, die gewaltige Scheibe für den Streitwagen eines Gottes zu halten, der wild über den Himmel raste.
    Ihre Vorfahren hatten es gewußt: die Sonne war der Gott Ra.
    Der Lebensbringer. Der einzige und wahre Gott vor allen anderen Göttern, ohne den alle anderen Götter nichts waren.
    Die Sonne fiel auf den Spiegel, und ein gewaltiger goldener Glanz erfüllte das Zimmer und blendete sie einen Augenblick.
    Sie setzte sich im Bett auf und legte ihre Hand zärtlich auf die Schulter ihres Geliebten. Ein Schwindelgefühl überkam sie. Ihr war, als taumelte sie.
    »Ramses!« flüsterte sie.
    Die warme Sonne schien auf ihr Gesicht, auf ihre Brauen und ihre tief geschlossenen Lider. Sie spürte sie auf den Brüsten und auf den ausgestreckten Armen.
    Kribbeln, Wärme, ein plötzliches gewaltiges Wohlbefinden.
    Sie stand vom Bett auf und ging rasch über den weichen grü-
    nen Teppich. Weicher als Gras war er, er verschlang das Ge-räusch ihrer Füße vollkommen.
    Sie stand am Fenster, sah über den Platz, sah wieder zum breiten silbernen Band des Flusses. Mit dem Handrücken be-rührte sie ihre eigene warme Wange.
    Plötzlich spürte sie ihren Körper

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