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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Geheimnis dieses Schlafs? Des Erwachens?
    Und des Elixiers!
    »Ramses der Verdammte«, flüsterte sie. »Würdest du für mich erwachen, wie du für Kleopatra erwacht bist? Würdest du in einem neuen Jahrhundert voll unbeschreiblicher Wunder erwachen, obwohl deine Königin tot ist?«
    Keine Antwort, nur Schweigen. Die großen, sanften Augen des goldenen Königs sahen sie an. Die Hände hatte er vor der Brust verschränkt.

    »Das ist Diebstahl«, rief Henry, der seine Wut kaum im Zaum halten konnte. »Das Ding ist unbeschreiblich wertvoll.« Er sah den kleinen Mann im Hinterzimmer der Münzhandlung finster an. Elender kleiner Dieb in seiner stickigen Welt voller schmutziger Glasschaukästen und Geldstücken, die ausgestellt waren wie kostbare Juwelen.
    »Wenn sie echt ist, ja«, antwortete der Mann langsam. »Und wenn sie echt ist, woher stammt sie? Eine solche Münze mit dem Abbild von Kleopatra? Sie werden wissen wollen, woher sie stammt! Und Sie haben mir Ihren Namen nicht gesagt.«
    »Nein, das habe ich nicht.« Erbost entriß er dem Händler die Münze, steckte sie in die Tasche und wandte sich zum Gehen.
    Er verweilte gerade noch lange genug, sich die Handschuhe anzuziehen. Was besaß er noch? Fünfzig Pfund? Er war wü-
    tend. Er schlug die Tür hinter sich zu und trat in den bitterkalten Wind hinaus.

    Der Händler saß eine ganze Weile reglos da. Er konnte die Münze noch spüren, die er buchstäblich aus den Händen hatte gleiten lassen. In all den Jahren hatte er noch niemals etwas Derartiges gesehen. Er wußte, daß sie echt war, und plötzlich kam er sich zum ersten Mal in seinem Leben wie ein richtiger Narr vor.
    Er hätte sie kaufen sollen! Er hätte das Risiko eingehen sollen.
    Aber er wußte, daß sie gestohlen war, und er konnte nicht einmal für die Königin vom Nil zum Dieb werden.
    Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging hinter den staubigen Vorhang, der sein Geschäft von einem winzigen Zimmer trennte, wo er selbst während der Geschäftszeiten den größten
    Teil seiner Zeit allein verbrachte. Seine Zeitung lag noch so neben dem Sessel, wie er sie verlassen hatte. Er blickte auf die Schlagzeile:

    STRATFORDS MUMIE UND IHR FLUCH
    KOMMEN NACH LONDON

    Die Tuschezeichnung darunter zeigte einen schlanken jungen Mann, der zusammen mit der Mumie des verblichenen Ramses des Verdammten von Bord der P & O H. M. S. Melpomine ging. Darunter stand: Henry Stratford, Neffe des toten Archäologen. Ja, das war der Mann, der gerade sein Geschäft verlassen hatte. Hatte er die Münze aus dem Grab gestohlen, wo sein Onkel so plötzlich verstorben war? Und wie viele hatte er noch mitgehen lassen? Der Händler war verwirrt; einerseits war er erleichtert, andererseits voller Bedauern. Er sah das Telefon an.

    Mittag. Es war still im Speisesaal des Clubs. Die wenigen Mitglieder nahmen ihre Mahlzeiten schweigend ein. Alles war genau so, wie Randolph es mochte. Dieser Ort war eine wahr-hafte Zufluchtsstätte, die ihn von den lärmenden Straßen draußen und dem endlosen Druck und der Verwirrung seines Büros erlöste.
    Er war nicht glücklich, als er seinen Sohn fünfzehn Meter entfernt in der Tür stehen sah. Hat höchstwahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen. Und doch war Henry rasiert und einwandfrei gekleidet, das mußte Randolph ihm lassen. Kleinigkeiten gerieten bei Henry niemals außer Kontrolle. Mit der großen Katastrophe kam er nicht zurecht – damit, daß er kein richtiges Leben mehr hatte. Daß er ein Spieler und Trinker ohne Seele war.
    Randolph machte sich wieder über seine Suppe her.
    Er sah nicht auf, als sein Sohn ihm gegenüber Platz nahm und beim Kellner unverzüglich einen Scotch mit Soda bestellte.
    »Ich habe dir gesagt, du sollst gestern abend bei deiner Cousine bleiben«, sagte Randolph düster. Dieses Gespräch war sinnlos. »Ich habe dir den Schlüssel dagelassen.«
    »Danke, ich habe den Schlüssel geholt. Und meiner Cousine geht es zweifellos auch ohne mich sehr gut. Sie hat ihre Mumie, die ihr Gesellschaft leistet.«

    Der Kellner stellte das Glas hin, dessen Inhalt Henry sofort hinunterstürzte.
    Randolph aß wieder langsam einen Löffel heiße Suppe.
    »Verdammt, warum gehst du hier essen? So was ist seit einem Jahrzehnt aus der Mode. Wie eine Beerdigung.«
    »Sei leise.«
    »Warum denn? Alle Anwesenden sind stocktaub.«
    Randolph lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er nickte dem Kellner knapp zu, damit dieser den Suppenteller abräumte.
    »Es ist mein Club, und mir

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