Die Mumie
gefällt es hier«, sagte er mürrisch.
Sinnlos. Alle Unterhaltungen mit seinem Sohn waren sinnlos.
Er hätte weinen können, wenn er nur darüber nachdachte. Er hätte weinen können, wenn er zu lange über die Tatsache nachdachte, daß Henrys Hände zitterten, daß sein Gesicht blaß und hager war und seine Augen ins Leere starrten – Augen eines Süchtigen, eines Trinkers.
»Bringen Sie die Flasche«, sagte Henry ohne aufzuschauen zu dem Kellner. Und zu seinem Vater: »Ich habe nur noch zwanzig Pfund.«
»Ich kann dir nichts mehr geben!« sagte Randolph müde. »So lange sie die Kontrolle hat, ist die Situation schlichtweg furchtbar. Das verstehst du nicht.«
»Du lügst mich an. Sie hat gestern die Papiere unterschrieben…«
»Du hast ein Jahresgehalt im voraus bekommen.«
»Vater, ich muß noch einmal hundert haben…«
»Wenn sie selbst die Bücher durchgeht, muß ich vielleicht alles gestehen und um eine neue Chance bitten,«
Es erfüllte ihn mit seltsamer Erleichterung, es wenigstens auszusprechen. Vielleicht wollte er es so. Plötzlich betrachtete er seinen Sohn mit etwas Abstand. Ja, er sollte seiner Nichte alles erzählen und sie…? Um ihre Hilfe bitten.
Henry reagierte voller Hohn.
»Uns ihrer Barmherzigkeit ausliefern. Das ist ja großartig.«
Randolph wandte sich ab und sah über die vielen weißgedeckten Tische. Jetzt war nur noch eine gebückte, grauhaarige Gestalt anwesend, die allein an einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke speiste. Der greise Visconte Stephenson –
einer vom alten Landadel, der noch über das nötige Geld verfügte, um seine ausgedehnten Ländereien zu unterhalten. Iß in Frieden, mein Freund, dachte Randolph niedergeschlagen.
»Was bleibt uns anderes übrig?« sagte er jetzt leise zu seinem Sohn. »Du könntest morgen im Büro erscheinen. Dich wenigstens einmal sehen lassen…«
Hörte sein Sohn ihm überhaupt zu, sein Sohn, der schon immer ein Jammerlappen gewesen war, sein Sohn, der keine Zukunft hatte, keine Ambitionen, keine Pläne, keine Träume?
Plötzlich brach es ihm das Herz, der Gedanke an die langen Jahre, in denen sein Sohn immer nur verzweifelt gewesen war, verschlagen und verbittert. Es brach ihm das Herz, mi-tanzusehen, wie die Augen seines Sohnes argwöhnisch über die einfachen Gegenstände auf dem Tisch huschten – das schwere Silber, die Serviette, die er noch nicht auseinander gefaltet hatte. Das Glas und die Flasche Scotch.
»Also gut, ich gebe dir noch was vom Firmenkonto«, sagte er.
Welche Rolle spielten schon weitere hundert Pfund? Es handelte sich um seinen Sohn. Seinen einzigen Sohn.
Ein ernster und doch unbestreitbar aufregender Anlaß. Als Elliott eintraf, war das Haus der Stratfords schon brechend voll. Dieses Haus mit seinen ungewöhnlich großen Zimmern und der breiten Treppe hatte ihm schon immer gefallen.
So viel dunkles Holz, so viel turmhohe Bücherregale, und dennoch besaß es durch das im Überfluß vorhandene elektrische Licht und die endlosen goldenen Tapeten eine fröhliche Atmosphäre. Doch als er in der Eingangsdiele stand, vermißte er Lawrence schmerzlich. Er spürte Lawrences Gegenwart, und alle vergeudeten Augenblicke ihrer Freundschaft fielen ihm plötzlich wieder ein. Und die längst vergangene Liebesbezie-hung, die ihn immer noch quälte.
Nun, er hatte gewußt, daß es passieren würde. Aber heute abend wollte er nirgendwo sonst auf der Welt sein, nur in Lawrences Arbeitszimmer, wo die Mumie von Ramses dem Verdammten zum ersten Mal ausgestellt wurde. Lawrences Entdeckung. Er machte eine knappe, ablehnende Geste, um alle abzuhalten, die sofort auf ihn zugestürmt kamen, dann neigte er den Kopf und drängte sich sachte zwischen Fremden und alten Freunden hindurch, bis er das Ägyptische Zimmer erreicht hatte. Die Schmerzen in seinen Beinen waren heute nacht besonders schlimm – wegen der Feuchtigkeit, wie er immer sagte. Glücklicherweise würde er nicht lange stehen müssen. Und er besaß einen neuen Gehstock, der ihm gut gefiel. Es handelte sich um ein kostbares Ding mit Silberknauf.
»Danke, Oscar«, sagte er mit dem üblichen Lächeln, als er das erste Glas Weißwein entgegennahm.
»Keinen Augenblick zu früh, alter Junge«, sagte Randolph müde zu ihm. »Sie wollen das abscheuliche Ding gerade aus-packen. Eigentlich könnte ich auch mitkommen.«
Elliott nickte. Randolph sah schrecklich aus, soviel stand fest.
Lawrences Tod hatte ihn aller Kraft beraubt. Aber man sah auch, daß er sein
Weitere Kostenlose Bücher