Die Mumie
umgeben, denen er zweifellos etwas über die Schriftrollen und die Reihe erlesener Gefä-
ße erklärte.
»Was meinst du?« bedrängte ihn Julie nochmals. War Ernst-haftigkeit jemals so verführerisch gewesen?
»Es kann unmöglich Ramses der Große sein, meine Liebe«, sagte er. »Aber das weißt du ja.« Er studierte noch einmal den bemalten Sargdeckel, dann den Leichnam, der in seine staubigen Bandagen eingemummt war. »Ausgezeichnete Arbeit, das muß ich sagen. Es wurden nicht viele Chemikalien be-nützt. Kein Bitumengeruch.«
»Überhaupt kein Bitumen«, sagte Samir plötzlich. Er hatte neben Elliott gestanden, und Elliott hatte ihn nicht einmal gesehen.
»Und was halten Sie davon?« fragte Elliott.
»Der König selbst hat uns die Erklärung gegeben«, sagte Samir. »Das jedenfalls hat Lawrence mir gesagt. Ramses hat sich mit allen gebührlichen Gebeten und Zeremonien banda-gieren aber nicht einbalsamieren lassen. Er hat den Ort, wo er seine Geschichte aufgeschrieben hat, nie verlassen.«
»Was für eine erstaunliche Vorstellung!« sagte Elliott. »Und haben Sie die Inschrift selbst gelesen?« Er deutete auf das Lateinische und übersetzte: »›Laßt die Sonne nicht auf meine sterblichen Überreste scheinen, denn in Dunkelheit schlafe ich, jenseits von Leid, jenseits von Wissen…‹ Das ist schwer-lich ägyptische Gefühlsduselei. Ich glaube, da stimmen Sie mir alle zu.«
Samirs Gesicht verdunkelte sich, als er die winzigen Buchstaben betrachtete. »Überall Flüche und Warnungen. Ich war ein neugieriger Mann, bis wir dieses seltsame Grab geöffnet haben.«
»Und jetzt haben Sie Angst?« Es war nicht gut, wenn ein Mann so etwas zu einem anderen sagte. Aber es stimmte.
Und Julie war einfach begeistert.
»Elliott, ich möchte, daß du Vaters Unterlagen liest«, sagte sie, »bevor das Museum alles an sich reißt und in einer Gruft verschwinden läßt. Der Mann behauptet nicht nur, daß er Ramses ist. Es geht um wesentlich mehr.«
»Du meinst doch nicht den Unsinn in den Zeitungen«, fragte er sie. »Daß er unsterblich war und Kleopatra geliebt hat.«
Seltsam, wie sie ihn ansah. »Vater hat einen Teil davon übersetzt«, wiederholte sie. Sie sah zur Seite. »Ich habe das Notizbuch. Es liegt auf seinem Schreibtisch. Ich glaube, Samir wird mir zustimmen. Du wirst es interessant finden.«
Aber Samir wurde von Hancock und einem anderen Mann mit sprödem Lächeln weggezerrt. Und Lady Treadwell hatte sich an Julie herangemacht, bevor diese fortfahren konnte. Hatte Julie keine Angst vor dem Fluch der Mumie? Elliott spürte, wie ihre Hand aus seiner glitt. Der alte Winslow Baker wollte unbedingt sofort mit Elliott sprechen. Nein, geh weg. Eine große Frau mit eingefallenen Wangen und langen weißen Fingern stand vor dem Sarg und wollte wissen, ob die ganze Sache vielleicht ein Schabernack war.
»Gewiß nicht!« sagte Baker. »Lawrence hat immer nur echte Sachen ausgegraben. Darauf würde ich mein Leben setzen.«
Elliott lächelte. »Sobald das Museum die Bandagen entfernt hat«, sagte er, »wird man das Alter genauer bestimmen können. Selbstverständlich auch anhand innerer Spuren.«
»Lord Rutherford, ich habe Sie gar nicht erkannt«, sagte die Frau.
Großer Gott, sollte er sie etwa kennen? Jemand war vor sie getreten; alle wollten dieses Ding ansehen. Und er hätte weitergehen sollen, wollte das aber nicht.
»Ich ertrage den Gedanken nicht, daß sie ihn aufschneiden«, sagte Julie fast flüsternd. »Ich sehe ihn auch zum ersten Mal.
Ich habe nicht gewagt, den Sarg allein zu öffnen.«
»Komm mit, Darling, ich möchte dich einem alten Freund vorstellen«, sagte Alex plötzlich. »Vater, hier steckst du! Gönn deinen Füßen Ruhe! Soll ich dich zu einem Stuhl führen?«
»Ich komme zurecht, Alex, geh nur«, entgegnete Elliott. Tatsache war, daß er an Schmerzen gewöhnt war. Sie waren wie winzige Messer in seinen Gelenken, und heute abend konnte er sie sogar in den Fingern spüren. Aber ab und zu konnte er sie völlig vergessen.
Und nun war er allein mit Ramses dem Großen. Jede Menge Rücken und Schultern wurden ihm zugewendet. Prima.
Er kniff die Augen zusammen und beugte sich ganz dicht über das Gesicht der Mumie. Erstaunlich wohlgeformt und überhaupt nicht ausgetrocknet. Und ganz sicher war das nicht das Gesicht eines alten Mannes, der Ramses am Ende seiner sechzigjährigen Regentschaft hätte sein müssen.
Der Mund war der Mund eines jungen Mannes, höchstens aber der eines Mannes in den
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