Die Mumie
der die riesigen Hallen erfüll-te. Er mußte eine Verbindung zwischen all den Erfindungen herstellen. Er mußte begreifen, wie einfach alles war.
Sie konnte sehen, wie er die Menschen bezauberte, wohin sie auch gingen. Männer und Frauen machten ihm Platz, als wüß-
ten sie instinktiv, daß er ein König war. Mit seinem Gebaren, seinen ausgreifenden Schritten, seinem strahlenden Lächeln bannte er diejenigen, die er ansah, denen er rasch die Hand schüttelte, deren Unterhaltungen er lauschte, als enthielten sie eine geheime Botschaft, die er nicht mißverstehen durfte.
Sicher gab es weise Worte, um diesen Zustand des Daseins zu beschreiben, aber sie fielen Julie nicht ein. Sie wußte nur, daß er Freude an allem hatte, daß Bagger und Dampfwalze ihm keine Angst einflößten, weil er mit Schocks und Überra-schungen rechnete und nur verstehen wollte.
So viele Fragen mußte sie ihm stellen. So viele Begriffe und Ideen mußte sie erklären. Das war am allerschwierigsten.
Aber abstrakte Gespräche wurden mit jeder Stunde einfacher.
Er lernte mit schwindelerregender Schnelligkeit Englisch.
»Namen!« sagte er zu ihr, wenn ihre endlosen Kommentare auch nur eine Minute versiegten. »Sprache besteht aus Namen, Julie. Namen für Menschen, für Gegenstände, für Gefüh-le.« Er klopfte sich auf die Brust, während er letzteres sagte.
Am frühen Nachmittag waren die lateinischen Wörter quare, quid, quo, qui völlig aus seiner Sprache verschwunden.
»Englisch ist alt, Julie. Sprache der Barbaren meiner Zeit, die heute mit lateinischen Wörtern durchsetzt ist. Hörst du das Lateinische heraus, Julie? Was ist das, Julie! Erkläre es mir!«
»Aber ich folge keinem bestimmten System«, sagte sie. Sie wollte ihm das Drucken erklären und dann die Verbindung zum Prägen von Münzen herstellen.
»Ich mache mir mein eigenes System«, versicherte er ihr. Er war damit beschäftigt, sich durch die Hintertüren von Bäckereien und Suppenküchen, in die Geschäfte von Schuhmachern und Hutmachern zu zwängen, die Abfälle zu studieren, die auf die Gassen geworfen wurden, und die Papiertüten zu beäugen, welche die Leute herumtrugen, und die Kleidung der Frauen zu bewundern.
Er starrte den Frauen geradezu nach.
Wenn das keine Lust ist, bin ich eine schlechte Menschenken-nerin, dachte Julie. Er hätte den Frauen angst gemacht, wäre er nicht so teuer gekleidet gewesen und so seltsam selbstge-fällig. Die ganze Art, wie er da stand, gestikulierte und sprach, übte eine große Anziehungskraft aus. Er ist ein König, dachte sie, an fremdem Ort in fremder Zeit, aber nichtsdestotrotz ein König.
Sie führte ihn in eine Buchhandlung. Sie deutete auf die alten Namen: Aristoteles, Plato, Euripides, Cicero. Er betrachtete die Drucke von Aubrey Beardsley an den Wänden.
Fotografien versetzten ihn buchstäblich in Verzückung. Julie ging mit ihm in ein kleines Atelier, um ein Foto machen zu lassen. Seine Freude hatte fast etwas Kindliches. Das Wunder-barste für ihn war, daß selbst die Armen der Stadt derlei Bilder von sich machen lassen konnten.
Doch als er die beweglichen Bilder sah, war er über alle Ma-
ßen betroffen. In dem überfüllten kleinen Kino keuchte er und hielt Julies Hand fest umklammert, während sich die riesigen, erleuchteten Gestalten vor ihnen auf der Leinwand bewegten.
Er folgte dem Projektionsstrahl mit den Augen, begab sich unverzüglich zu dem kleinen Raum hinten und riß ohne zu zögern die Tür auf. Der alte Vorführer erlag wie alle anderen seinem Charme und erklärte ihm schon bald den gesamten Mechanismus in allen Einzelheiten.
Als sie schlußendlich die dunkle Victoria Station betraten, blieb er wie angewurzelt stehen, als er der mächtigen, schnauben-den Lokomotiven gewahr wurde. Doch selbst diesen näherte er sich furchtlos. Er berührte das kalte, schwarze Eisen und stellte sich gefährlich nahe an die gewaltigen Räder. Als er den Fuß hinter dem abfahrenden Zug auf die Schiene stellte, spürte er die Vibration. Benommen betrachtete er die Menschenmengen.
»Tausende von Menschen werden von einem Ende Europas zum anderen befördert«, rief sie ihm trotz des Lärms zu. »Reisen, die einst Monate dauerten, dauern heutzutage nur wenige Tage.«
»Europa«, flüsterte er. »Italien bis Britannien.«
»Die Züge werden auf Schiffen über das Wasser transportiert.
Die Armen vom Land können in die Städte kommen. Alle Menschen kennen die Städte, verstehst du?«
Er nickte ernst. Er drückte ihre
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