Die Mumie
Hand. »Keine Eile, Julie. Mit der Zeit werde ich alles begreifen.« Wieder sein strahlendes Lächeln, das eine herzliche Zuneigung ausdrückte, angesichts derer sie errötete und sich abwandte.
»Tempel, Julie. Die Häuser des deus… dei .«
»Götter. Aber es gibt heute nur noch einen. Einen Gott.«
Bestürzung. Einen Gott?
Westminster Abbey. Sie gingen zusammen unter den hohen Bögen dahin. Welcher Prunk. Sie zeigte ihm das Ehrengrab-mal Shakespeares.
»Nicht das Haus Gottes«, sagte sie. »Aber ein Ort, wo wir zu-sammenkommen, um mit ihm zu sprechen.« Wie sollte sie ihm das Christentum erklären? »Brüderliche Liebe«, sagte sie.
»Das ist die Grundlage.«
Er sah sie verwirrt an. »Brüderliche Liebe?« Er studierte die Menschen ringsum mit stechendem Blick.
»Glauben sie an diese Religion?« fragte er. »Oder ist sie reine Gewohnheit?«
Am späten Nachmittag sprach er zusammenhängend und in ganzen Sätzen. Die englische Sprache gefiel ihm. Er hielt sie für eine gute Sprache zum Denken. Ebenso wie Griechisch und Latein. Aber nicht Ägyptisch. Mit jeder neuen Sprache, die er sich in der Frühzeit seiner Existenz angeeignet hatte, war sein Begriffsvermögen besser geworden. Sprachen vermittel-ten Denkweisen. Er konnte es nicht fassen, daß die gewöhnlichen Menschen dieser Zeit Zeitungen lasen, Zeitungen voll mit Worten! Wie groß mußte das Denkvermögen des gewöhnlichen Menschen sein!
»Bist du kein bißchen müde?« fragte Julie schließlich.
»Nein, niemals müde«, sagte er, »außer im Herzen und in der Seele. Hungrig. Essen, Julie. Ich brauche viel Essen.«
Sie betraten den stillen Hyde Park, und trotz seiner Beteuerun-gen schien ihn die plötzliche Ruhe unter den uralten Bäumen ringsum zu erleichtern, ebenso wie der Himmel zwischen den Bäumen, der nicht anders war als irgendwo anders auf der Welt.
Sie fanden eine kleine Bank am Wegesrand. Er verstummte und beobachtete die Passanten. Und wie sie ihn bestaunten –
diesen Mann mit dem kräftigen Körper und dem übermütigen Gesichtsausdruck. Wußte er, wie schön er war, fragte sie sich.
Wußte er, daß allein die Berührung seiner Hand einen Schauer durch sie jagte, den sie zu ignorieren versuchte?
Ja, sie mußte ihm so vieles zeigen! Sie führte ihn in die Büros von Stratford Shipping, betete, daß niemand sie erkennen würde, führte ihn in den schmiedeeisernen Lift und drückte den Knopf, um zum Dach zu gelangen.
»Kabel und Seilrollen«, erklärte sie.
»Britannien«, flüsterte er, als sie über die Dächer von London blickten. Sie lauschten dem Heulen der Fabriksirenen und dem Klingeln der Straßenbahnglocken weit unten. »Amerika, Julie.« Er drehte sich aufgeregt zu ihr um und umklammerte ihre Schultern, seine Finger waren erstaunlich sanft. »Wie viele Tage mit dem mechanischen Schiff nach Amerika?«
»Zehn Tage, glaube ich. Nach Ägypten kommt man schneller.
Eine Fahrt nach Alexandria dauert sechs Tage.«
Warum hatte sie das gesagt? Sein Gesicht wurde unmerklich finsterer. »Alexandria«, flüsterte er und sprach es so aus wie sie. »Alexandria existiert noch?«
Sie führte ihn zum Fahrstuhl. Es gab noch soviel zu sehen. Sie erklärte ihm, daß es immer noch ein Athen gab, immer noch ein Damaskus, immer noch ein Antiochia. Und Rom, natürlich gab es Rom noch.
Sie hatte einen verwegenen Einfall. Nachdem sie eine Droschke gerufen hatte, sagte sie zum Kutscher: »Zu Madame Tussaud.«
Die kostümierten Figuren im Wachsfigurenkabinett. Sie er-klärte ihm hastig, worum es sich handelte: um einen Streifzug durch die Geschichte. Sie konnte ihm amerikanische Indianer zeigen, Dschingis Khan oder Attila den Hunnen – Männer, die Europa nach dem Untergang Roms in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Sie konnte sich keine Vorstellung machen von dem Mosaik von Fakten, das für ihn entstand. Seine Auffassungsgabe verblüffte sie immer mehr.
Doch bereits nach wenigen Augenblicken bei Madame Tussaud erkannte sie ihren Fehler. Er verlor die Fassung, als er die ersten römischen Soldaten sah. Er erkannte Julius Cäsar sofort. Und dann betrachtete er ungläubig die Ägypterin Kleopatra, eine Wachspuppe, die keinerlei Ähnlichkeit mit der Bü-
ste hatte, welche ihm so teuer war, oder den Münzen, die er noch in seinem Besitz hatte. Aber es war unmißverständlich, daß sie es war, die auf ihrer Ottomane lag und die Natter in der Hand hielt, deren Zähne sich dicht unterhalb der nackten Brust befanden. Markus Antonius stand steif
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