Die Mumie
als er eines der Gebäckstücke nahm – klebrig und süß. Er verschlang es. Er wollte Julie Stratford verschlingen. Diese Frau, diese großartige Frau, diese feingliedrige moderne Königin, die kein Land zum Regieren brauchte, um königlich zu sein. So herrlich klug und verblüffend stark. Aber er wußte, daß er besser nicht zu sehr an sie dachte, denn sonst würde er hinaufgehen und an ihre Tür klopfen.
Er stellte sich vor, in ihr Schlafzimmer einzudringen. Die arme Dienerin wacht unter dem Dach auf und fängt an zu kreischen.
Na und? Und Julie Stratford erhebt sich in dem Spitzennacht-hemd, das er vorhin vom Flur aus gesehen hatte. Er stürzt sich auf sie, reißt ihr die spärliche Kleidung vom Leib, liebkost ihre heißen, zarten Glieder und nimmt sie, bevor sie Einwände erheben kann. Nein. Das kannst du nicht machen. Wenn du das tust, zerstörst du das, was du begehrst. Julie Stratford ist viel Demut und viel Geduld wert. Das hatte er schon gewußt, als er sie in dem seltsam gelähmten Stadium des Erwachens gesehen hatte, als sie in der Bibliothek auf und ab gegangen war und ihn in seinem Sarg angesprochen hatte, ohne zu ahnen, daß er sie hören konnte.
Julie Stratford war zu einem großen Geheimnis von Körper, Seele und Willen geworden.
Er nahm wieder einen großen Schluck Brandy. Köstlich. Ein weiterer langer Zug an der Zigarre. Er schnitt die Orange mit dem Messer durch und aß das süße, feuchte Fruchtfleisch.
Die Zigarre erfüllte den Raum mit einem Geruch, der köstlicher war als jeder Weihrauch. Türkischer Tabak, hatte Julie ihm gesagt. Als sie es gesagt hatte, hatte er nicht gewußt, was das bedeutete, aber jetzt wußte er es. Er hatte ein schmales Bändchen mit dem Titel Die Geschichte unserer Welt durch-geblättert und alles über die Türken und ihre Eroberungen gelesen. Eigentlich hätte er überhaupt mit dünnen Büchern mit Zusammenfassungen und Verallgemeinerungen anfangen sollen: »Binnen eineinhalb Jahrhunderten war ganz Europa an die Barbarenhorden gefallen.« Die feinen Unterschiede würden später folgen, wenn er in der Lage war, sämtliche Bücher in allen Sprachen zu studieren. Wenn er nur daran dachte, mußte er lächeln.
Das Grammophon verstummte. Er stand auf, ging zu der Maschine und wählte eine andere schwarze Scheibe aus. Diese hatte den eigentümlichen Titel »Nur ein Vogel im goldenen Käfig«. Aus unerfindlichen Gründen mußte er dabei wieder an Julie denken; er wollte sie mit Küssen bedecken. Er legte die Scheibe auf den Plattenteller und kurbelte. Eine dünne Frau-enstimme fing an zu säuseln. Er lachte. Er füllte sein Glas wieder mit Brandy und bewegte sich leise zur Musik, ohne dabei die Füße zu heben.
Aber es wurde Zeit zu arbeiten. Draußen wurde es bereits hell.
Und trotz des Lärms der Stadt hörte er das ferne Zwitschern der Vögel.
Er ging in die dunkle, kalte Küche des Hauses und suchte »ein Glas«, wie sie es nannten, diesen wunderschönen Gegenstand, den er sodann mit Wasser aus dem wundersamen kleinen Kupferhahn füllte.
Dann begab er sich wieder in die Bibliothek und betrachtete die lange Reihe der Alabastergefäße unter dem Spiegel. Alle schienen unversehrt zu sein. Nirgendwo Risse. Nichts fehlte.
Und da war auch der kleine Brenner und die leeren Glasphiolen. Er brauchte nur ein wenig Öl. Oder eine der Kerzen, die mittlerweile zu handlichen Stummeln heruntergebrannt waren.
Er schob die Schriftrollen unachtsam beiseite und stellte den kleinen Brenner richtig hin. Er rückte die Kerze zurecht und blies die Flamme aus.
Dann studierte er erneut die Gefäße. Seine Hand griff zu, bevor der Geist eine Entscheidung gefällt hatte. Und als er das feine weiße Pulver sah, da wußte er, daß seine Hand richtig gewählt hatte.
Ach, hätte Henry Stratford seinen Löffel nur in dieses Gefäß statt in das andere getaucht! Was für einen Schock hätte er erlebt. Sein Onkel, ein brüllender Löwe, hätte ihm womöglich den Kopf abgerissen.
Plötzlich fiel ihm ein, daß die Gifte den Menschen seiner Zeit angst gemacht hätten, daß sie aber den Wissenschaftler dieser Zeit nicht abschreckten. Ein Mensch mit einem Fünkchen Glauben hätte ohne weiteres alle Behälter mitnehmen und ihren Inhalt an Versuchstieren ausprobieren können, um auf diese Weise das Elixier zu finden. Nichts leichter als das.
Bisher wußten nur Julie Stratford und Samir Ibrahaim von dem Elixier. Und sie würden das Geheimnis niemals preisgeben.
Aber Lawrence Stratford hatte
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