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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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dünnen Ledersohlen der Sandalen spüren, genau wie damals.
    Sie hatte verlangt, neben Markus Antonius begraben zu werden, und so war es geschehen. Er stand in der Menge, ein gewöhnlicher Mann im groben Mantel und lauschte dem Weh-klagen der Trauernden. »Unsere große Königin ist tot.«
    Seine Trauer war eine Qual gewesen. Warum also weinte er nicht? Er saß in diesem Zimmer und betrachtete ihre Marmorbüste, aber der Schmerz war unfaßbar.
    »Kleopatra«, flüsterte er. Er stellte sie sich vor, nicht als die Frau auf dem Totenbett, sondern als junges, verspieltes Mädchen, das ihn geweckt hatte: Steh auf, Ramses der Große.
    Eine Königin von Ägypten ruft dich. Erwache aus deinem tiefen Schlaf und sei mein Ratgeber in dieser Zeit der Not.
    Nein, er empfand weder die Freude noch den Schmerz. Bedeutete das, daß auch seine Leidensfähigkeit unter dem wirk-samen Elixier gelitten hatte, das unablässig in seinen Adern rann? Oder lag es daran, daß er, während er schlief, irgendwie wußte, daß die Zeit verging? Irgendwie entfernte er sich sogar im Unterbewußtsein von den Dingen, die ihm weh getan hatten, und seine Träume waren lediglich ein Beweis für die Gedanken, die sich in Dunkelheit und Stille formten. Noch ehe das Sonnenlicht auf seinen Körper gefallen, hatte er gewußt, daß Jahrhunderte verstrichen waren.
    Vielleicht hatte ihn alles, was er im zwanzigsten Jahrhundert gesehen hatte, so sehr schockiert, daß die Erinnerungen die Gefühlsebene noch nicht wirklich erreicht hatten. Aber der Schmerz würde unvermittelt wiederkehren, und er selbst wür-de halb von Sinnen sein – außerstande, die ganze Schönheit, die er erblickte, in sich aufzunehmen.

    Tatsächlich hatte es im Wachsmuseum, als er die vulgäre Nachbildung der Kleopatra neben dem lächerlich ausdruckslosen Antonius sah, einen Augenblick gegeben, in dem er so etwas wie Panik verspürte. Er war erst wieder ruhiger geworden, als er auf die lärmenden, geschäftigen Straßen von London zurückkehrte. Er hatte sie in seiner Erinnerung rufen hören: »Ramses! Antonius stirbt! Gib ihm das Elixier! Ramses!« Es schien eine Stimme zu sein, die außerhalb seiner Person erklang, über die er deshalb keine Macht hatte und die er nicht zum Schweigen bringen konnte. Es störte ihn, daß man sie so derb dargestellt hatte. Sein Herz hatte wie wild gehämmert. Gehämmert. Aber das war kein Schmerz.
    Doch welche Rolle spielte es, daß die Wachsfigur ihre Schönheit nicht wiedergab? Seine Statuen hatten auch keinerlei Ähnlichkeit mit ihm, und er war in der heißen Sonne gestanden und hatte mit den Arbeitern gesprochen, die sie geschaffen hatten! Niemand ging davon aus, daß Volkskunst viel mit dem lebenden Modell aus Fleisch und Blut gemein hatte. Das hatte sich erst geändert, als die Römer angefangen hatten, ihre Gärten mit detailgetreuen Nachbildungen ihrer selbst zu füllen.
    Doch Kleopatra war keine Römerin gewesen. Kleopatra war Griechin und Ägypterin. Und das Schreckliche war, daß Kleopatra für diese Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts etwas verkörperte, was sie niemals gewesen war. Sie war zu einem Symbol der Liederlichkeit geworden, wo sie doch in Wahrheit eine Vielzahl erstaunlicher Begabungen besessen hatte. Man hatte sie schließlich für einen Fehler bestraft und alles andere vergessen.
    Genau das hatte ihn im Wachsmuseum schockiert. Man ge-dachte ihrer, aber nicht als das, was sie gewesen war. Sie war eine angemalte Hure, die auf einem seidenen Diwan lag.
    Schweigen. Sein Herz hämmerte wieder. Er lauschte. Er hörte das Ticken der Uhr.
    Ein Tablett mit köstlichem Gebäck stand vor ihm. Daneben stand der Brandy, und Orangen und Birnen lagen auf einem Porzellanteller. Er hätte essen und trinken sollen, denn das beruhigte ihn immer, so tun sollen, als wäre er am Verhungern, obwohl er gar nicht am Verhungern war.
    Und er wollte die Qualen nicht noch einmal durchstehen, oder? Ja, er hatte Angst. Weil er seinen unermeßlichen Schatz menschlicher Erfahrungen nicht verlieren wollte, denn das wäre dem Sterben gleichgekommen!
    Er betrachtete wieder ihr wunderschönes in Marmor gemeißeltes Gesicht, das die wahre Kleopatra zeigte und mit dem Zerrbild im Wachsmuseum nichts gemeinsam hatte. Irgend etwas in seinem Inneren bedrohte die seltsame Ruhe seines Geistes. Er sah Bilder ohne Sinn. Er preßte die Hände an den Kopf und seufzte.
    Dachte er dagegen an Julie Stratford, waren sein Herz und sein Verstand auf der Stelle vereint. Er lachte leise,

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