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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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in Besitz nahm.
    Den ganzen Tag hatte er Lawrence Stratfords steife und schwere offizielle Kleidung getragen. Und jetzt machte er es sich in Lawrence Stratfords seidenem »Pyjama« und dem Morgenmantel aus Satin bequem. Der verwirrendste Teil moderner Bekleidung waren aber eindeutig die Lederschuhe des Mannes gewesen. Menschliche Füße waren gewiß nicht dafür vorgesehen, sich in solche Hüllen hineinzuzwängen. Sie boten mehr Schutz, als ein Soldat in der Hitze des Gefechts brauchte. Und doch trugen selbst die Armen diese kleinen Folter-kammern, obschon einige das Glück hatten, daß das Leder Löcher hatte, wodurch eine Art Sandalen entstanden, in denen die Füße atmen konnten.
    Er lachte über sich selbst. Nach allem, was er heute gesehen hatte, dachte er über Schuhe nach. Seine Füße taten nicht mehr weh. Warum dachte er also immer noch darüber nach?
    Schmerzen waren meistens von kurzer Dauer; ebenso Freude. Zum Beispiel rauchte er gerade eine von Lawrence Stratfords köstlichen Zigarren und inhalierte den Rauch so langsam, daß ihm schwindlig wurde. Aber das Schwindelgefühl verschwand sofort wieder. So war es auch mit dem Brandy. Er erlebte Trunkenheit nur einen Augenblick, dann, wenn er den Alkohol schluckte und die köstliche Wärme noch in der Brust spürte.
    Sein Körper reagierte auf solche Sachen einfach nicht. Und doch konnte er schmecken und riechen und fühlen. Und die seltsam blecherne Musik aus dem Grammophon erfüllte ihn mit solcher Freude, daß er glaubte, er müsse wieder anfangen zu weinen.
    Es gab soviel zu genießen. Soviel zu lernen! Seit er vom Museum zurückgekehrt war, hatte er fünf oder sechs Bücher aus der Bibliothek von Lawrence Stratford überflogen. Er hatte komplexe und erheiternde Ansichten über die »Industrielle Revolution« gelesen. Er hatte sich ein wenig um die Theorien von Karl Marx gekümmert, die, soweit er das beurteilen konnte, reiner Unsinn waren. Ein reicher Mann, schien es, der über arme Menschen geschrieben hatte, ohne viel über ihre Denkweisen zu wissen. Er hatte den Globus studiert und sich die Namen von Kontinenten und Ländern eingeprägt. Rußland, das war ein interessantes Land. Und dieses Amerika war das größte Geheimnis überhaupt.
    Dann hatte er Plutarch gelesen, diesen Lügner! Wie konnte dieses Aas es wagen und behaupten, Kleopatra habe versucht, Oktavian zu verführen, ihren letzten Eroberer. Was für eine abscheuliche Vorstellung! Plutarch hatte eine Art, die ihn an alte Männer denken ließ, die sich zum Tratsch auf öffentlichen Parkbänken versammelten.
    Aber genug. Warum darüber nachdenken! Er war plötzlich verwirrt. Was bekümmerte ihn, was machte ihn auf einmal ein klein wenig ängstlich?
    Nicht die vielen Wunder, die er seit heute morgen in diesem zwanzigsten Jahrhundert gesehen hatte, auch nicht die primitive, simple englische Sprache, die er schon am Nachmittag fließend beherrscht hatte, und nicht die lange Zeit, die vergangen war, seit er die Augen zugemacht hatte. Was ihn beschäftigte, war die Frage, wie sein Körper sich unablässig erneuern konnte: wie Wunden heilen und verkrampfte Füße entspannen konnten, wie es möglich war, daß Brandy wenig bis gar keine Wirkung zeigte.
    Es bekümmerte ihn, weil er sich zum ersten Mal in seiner langen Existenz fragte, ob sein Herz und sein Denken nicht ebenfalls Opfer einer unkontrollierbaren Erneuerung waren. Fielen seelische Qualen ebenso mühelos von ihm ab wie körperliche Qualen?
    Unmöglich. Doch wenn dem nicht so war, warum hatte er dann während seines kurzen Ausflugs ins Britische Museum nicht vor Schmerzen aufgeschrien? Taub und schweigend war er zwischen Mumien und Sarkophagen und Schriftrollen durchgegangen, die aus allen Dynastien Ägyptens stammten, ja, selbst aus der Zeit, in der er sich aus Alexandria in sein letztes Grab in den Bergen von Ägypten zurückgezogen hatte.
    Samir war derjenige gewesen, der gelitten hatte, der wunderschöne Samir mit der goldenen Haut, dessen Augen so schwarz waren wie einstmals die von Ramses. Große ägyptische Augen, das waren sie, sie hatten sich in all den Jahrhunderten nicht verändert. Samir, sein Kind.
    Nicht, daß seine Erinnerungen nicht lebhaft gewesen wären.
    Das waren sie. Ihm war, als hätte er erst gestern gesehen, wie der Sarg der Kleopatra aus dem Mausoleum und zum Römerfriedhof am Meer getragen wurde. Wenn er wollte, konnte er das Meer riechen. Er konnte das Weinen um sich herum hö-
    ren. Er konnte die Steine unter den

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