Die Mumie
sich zukommen, in dem ein junger Mann auf dem Sitz hüpfte. Er drückte sich an die Steinmauer hinter sich, während das Ding über die Spurrillen im Schlamm und Lehm an ihm vorbei holperte.
Er war erschüttert, wütend. Einer der seltenen Augenblicke, da er sich hilflos und entblößt fühlte.
Benommen stellte er fest, daß er auf eine graue Taube starrte, die tot auf der Straße lag. Einer dieser fetten, trägen Vögel, die er überall in London auf Fenstersimsen und Dachfirsten sah.
Dieser war von einem Automobil überfahren worden, ein Flü-
gel war teilweise vom Reifen zerquetscht worden.
Als jetzt der Wind darüber hinwegstrich, hätte man glauben können, es wäre noch Leben in dem Tier.
Plötzlich überkam ihn eine Erinnerung, eine der ältesten und deutlichsten, die ihn grausam aus der Gegenwart riß und in eine andere Zeit, an einen anderen Ort trug.
Er stand in der Höhle der hetitischen Priesterin. Er selbst trug Kampfeskleidung und hatte die Hand am Griff des Bronze-schwerts, während er zu den weißen Tauben emporsah, die unter dem hohen Kamin im Sonnenschein kreisten.
»Sind sie unsterblich?« fragte er. Er sprach in der rauhen, kehligen Sprache der Hetiter.
Sie hatte furchtbar gelacht. »Sie fressen, aber sie müssen nicht fressen. Sie trinken, aber sie müssen nicht trinken. Die Sonne hält sie stark. Nehmt ihnen die Sonne, und sie schlafen, aber sie sterben nicht, mein König.«
Er hatte ihr ins Gesicht gesehen, das alt und von tiefen Runzeln durchzogen war. Das Lachen hatte ihn erbost.
»Wo ist das Elixier?« hatte er barsch gefragt.
»Willst du es haben?« Wie ihre Augen gefunkelt hatten, als sie sich ihm genähert, ihn verspottet hatte. »Und wenn die ganze Welt voll Menschen wäre, die nicht sterben können? Und deren Kindern. Und deren Kindeskindern? Ich sage dir, diese Höhle birgt ein schreckliches Geheimnis. Das Geheimnis vom Ende der Welt!«
Er hatte sein Schwert gezückt. »Gib es mir!« hatte er gebrüllt.
Sie hatte keine Angst gehabt, sie hatte nur gelächelt.
»Und wenn es dich tötet, mein tollkühner Ägypter? Kein Mensch hat es je getrunken. Kein Mann, keine Frau, kein Kind.«
Aber er hatte den Altar schon gesehen, und ebenso die Tasse mit der weißen Flüssigkeit. Und er hatte die Tafel dahinter gesehen, die mit winzigen, runenähnlichen Zeichen übersät war.
Er trat an den Altar. Er las die Worte. Konnte dies tatsächlich die Formel für das Elixier des ewigen Lebens sein? Gewöhnliche Zutaten, die er selbst auf den Feldern und an den Fluß-
ufern seines Heimatlandes hätte sammeln können? Er prägte sich die Worte ein, ohne zu wissen, daß er sie niemals wieder würde vergessen können.
Und die Flüssigkeit selbst, ihr Götter, seht sie euch an. Er hob das Gefäß mit beiden Händen und trank es leer. Irgendwo in weiter Ferne hörte er ihr Lachen, das durch die endlosen Kammern der Höhle hallte.
Dann hatte er sich umgedreht und sich die Lippen mit dem Handrücken abgewischt. Plötzlich weiteten sich seine Pupillen, ein Schmerz fuhr durch seinen Körper, sein Gesicht pulsierte, sein ganzer Körper versteifte sich, als stünde er im Streitwagen kurz vor der Schlacht und dem Befehl zum Angriff. Die Priesterin war einen Schritt zurückgewichen. Was hatte sie gesehen? Sein Haar wogte, die grauen Haare fielen aus, und kräftige braune wuchsen nach. Seine schwarzen Augen verblaßten und nahmen die Farbe von Saphiren an – eine erstaunliche Veränderung fand statt, die er später, als er in den Spiegel sah, mit eigenen Augen sehen konnte.
»Nun, wir werden sehen«, hatte er mit heftig pochendem Herzen und zitternden Muskeln geschrien. Ah, wie leicht und kräftig er sich doch fühlte. Er hätte fliegen können. »Werde ich leben oder sterben, Priesterin?«
Fassungslos betrachtete er die Londoner Straße vor sich. Als wäre es erst Stunden her! Er hörte immer noch das Flattern der Flügel unter dem Rauchabzug. Siebenhundert Jahre waren zwischen dem Augenblick und der Nacht vergangen, da er sich zum ersten Mal zu seinem langen Schlaf in die Gruft begeben hatte. Und zweitausend, seit er geweckt worden war, nur um wenige Jahre danach wieder ins Grab zu steigen.
Und dies ist jetzt London, dies ist das zwanzigste Jahrhundert.
Plötzlich zitterte er heftig. Wieder zerzauste der feuchte, rauchige Wind die Federn der grauen Taube, die tot auf der Stra-
ße lag. Er ging durch den Schlamm darauf zu, kniete neben dem toten Vogel nieder und hob ihn hoch. Ein
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