Die Muschelsucher
schwierig und zu verwickelt, nach so langer Zeit nicht auf Anhieb greifbar. All das war zu lange her, um die Fäden der inneren und äußeren Beweggründe zu entwirren und die Folge der Ereignisse bloßzulegen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt von Ambrose gesprochen oder auch nur seinen Namen erwähnt oder an ihn gedacht hatte. Aber jetzt lag sie mit offenen Augen da und starrte in das samtene Dunkel, das nicht wirklich dunkel war, und wußte, daß sie keine andere Wahl hatte, als zurückzugehen. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung, es war, als sähe sie einen alten Film oder entdeckte ein vielbenutztes altes Fotoalbum, blätterte darin und stellte voll Staunen fest, daß die Sepiaabzüge kein bißchen verblichen waren, sondern alles gestochen scharf, mit einer schier unfaßlichen Lebensnähe, festgehalten hatten.
Die Offizierin vom Frauen-Marinehilfskorps schob ihre Papiere zurecht und schraubte ihren Füllfederhalter auf. »Nun, Stern, wir müssen jetzt entscheiden, in welche Abteilung wir Sie stecken wollen.«
Penelope saß vor dem Schreibtisch und sah sie an. Die Offizierin hatte zwei blaue Streifen auf dem Ärmel und sehr kurz geschnittenes Haar. Ihr Kragen und ihre Krawatte saßen so fest, daß es aussah, als könne sie jederzeit ersticken, sie trug eine Herrenarmbanduhr, und neben den Papieren lagen ihr ledernes Zigarettenetui und ein massives goldenes Feuerzeug. Penelope erkannte eine weitere Miss Pawson und empfand eine gewisse Sympathie. »Haben Sie irgendwelche Qualifikationen?«
»Nein. Ich glaube nicht.«
»Steno? Schreibmaschine?«
»Nein.«
»Universitätsabschluß?«
»Nein.«
»Sie müssen ›Ma’am‹ zu mir sagen.«
»Ja, Ma’am.«
Die Offizierin räusperte sich und merkte, daß die neue Rekrutin des Frauenhilfskorps sie mit ihrem offenen Gesichtsausdruck und dem zutraulichen Blick ihrer dunkelbraunen Augen aus der Fassung brachte. Sie trug Uniform, aber die Uniform sah an ihr nicht so aus, wie sie aussehen sollte. Sie war zu groß, und ihre Beine waren zu lang, und ihre weichen und dunklen, zu einem losen Knoten gesteckten Haare waren eine Katastrophe. Der Knoten sah aus, als könne er jederzeit aufgehen und eine üppige Haarflut freigeben. Nicht militärisch.
»Ich nehme an, Sie haben eine Schule besucht?« Sie hätte sich nicht gewundert, wenn die Rekrutin Stern zu Hause unterrichtet worden wäre, von einer Gouvernante. Sie sah so aus. Ein bißchen Französisch und Aquarellieren und nicht viel mehr. Aber die Rekrutin Stern sagte: »Ja.«
»Pensionat?«
»Nein. Tagesschulen. Wenn wir in London waren, habe ich die Privatschule von Miss Pritchet besucht, und in Porthkerris die Mädchenoberschule. Porthkerris ist in Cornwall«, fügte sie freundlich hinzu.
Die Offizierin hätte sich gern eine Zigarette angezündet. »Ist dies das erste Mal, daß Sie von zu Haus fort sind?«
»Ja.«
»Sie müssen ›Ma’am‹ zu mir sagen.«
»Ja, Ma’am.«
Die Offizierin seufzte. Rekrutin Stern würde einer von diesen Problemfällen sein. Kultiviert, halbgebildet, vollkommen nutzlos. »Können Sie kochen?« fragte sie ohne große Hoffnung. »Nicht sehr gut.«
Es gab keine Alternative. »In dem Fall fürchte ich, daß wir Sie zu einem Steward machen müssen.«
Rekrutin Stern lächelte liebenswürdig und schien sich zu freuen, daß sie endlich zu einer Entscheidung gekommen waren. »Sehr gut.«
Die Offizierin schrieb einige Notizen auf das Formular und schraubte die Kappe des Füllfederhalters wieder auf. Penelope wartete, was als nächstes geschehen würde. »Ich denke, das wäre es.« Penelope stand auf, aber die Offizierin war noch nicht fertig. »Stern. Ihr Haar. Sie müssen etwas damit machen.«
»Was?« fragte Penelope.
»Wissen Sie, es darf nicht den Kragen berühren. Das ist Marinevorschrift. Warum lassen Sie es nicht kurz schneiden?«
»Ich möchte nicht, daß es kurz geschnitten wird.«
»Hm. dann versuchen Sie einfach, einen richtigen straffen Knoten zu machen. Geben Sie sich ein bißchen Mühe.«
»Oh. Ja, das werde ich tun.«
»Sie können abtreten.«
»Auf Wiedersehen.« Sie ging, doch als die Tür schon halb hinter ihr zu war, wurde sie wieder geöffnet. »Ma’am.« Sie wurde für die Königliche Marine-Artillerieschule HMS Excellent auf der Wal-Insel gezogen. Sie war Steward, doch sie wurde, vielleicht weil sie »anständig sprach«, zu einem Offizierssteward gemacht, das heißt, sie arbeitete in der Offiziersmesse: Sie deckte Tische, servierte
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