Die Muschelsucher
vertreiben. Sie eilte zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf, weil sie schreckliche Angst davor hatte, daß er, wenn sie zu lange brauchte, die Geduld verlieren und allein wegfahren und nie wieder ein Wort mit ihr reden würde. In ihrer Kabine angekommen, zog sie hastig die Uniform aus und warf sie auf ihre Koje, wusch sich Gesicht und Hände, zog die Nadeln aus ihrem Haar und schüttelte es glatt. Während sie es bürstete, genoß sie die vertraute schwere Fülle auf ihren Schultern. Es war, als ob sie wieder frei wäre, wieder sie selbst, und sie spürte, wie ihr Selbstvertrauen langsam zurückkehrte. Sie machte den Gemeinschaftsschrank auf und nahm das Kleid heraus, das Sophie ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und die räudige Bisamjacke, die sie gerettet und für sich behalten hatte, als Tante Ethel sie auf eine Trödelauktion hatte geben wollen. Sie fand ein Paar Strümpfe ohne Laufmaschen und nahm ihre besten Schuhe. Sie brauchte keine Handtasche, weil sie kein Geld hatte und sich nie schminkte. Sie rannte wieder hinunter, trug sich in das Anwesenheitsbuch ein und ging hinaus.
Es war nun fast dunkel, aber er saß immer noch in seinem kleinen Auto und rauchte immer noch an derselben Zigarette. »Tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe.« Außer Atem stieg sie wieder ein.
»Lange?« Er lachte, drückte die Zigarette aus und warf die Kippe fort. »Ich hab noch nie ein Mädchen gekannt, das so schnell war. Ich hatte mich darauf gefaßt gemacht, mindestens eine halbe Stunde zu warten.«
Die Tatsache, daß er bereit gewesen war, so lange auf sie zu warten, war überraschend und schmeichelhaft. Sie lächelte ihn an. Sie hatte vergessen, sich Parfüm hinter die Ohren zu tupfen, und hoffte, er würde nicht merken, daß Tante Ethels alte Pelzjacke nach Mottenkugeln roch.
»Ich habe zum erstenmal Zivil an, seit ich mich verpflichtet habe.«
Er ließ den Motor an. »Was für ein Gefühl ist es?« fragte er. »Es ist himmlisch.«
Sie fuhren zum Offiziersclub in Southsea, er führte sie nach oben, und sie setzten sich an die Bar, und er fragte sie, was sie trinken wolle. Sie wußte nicht recht, was sie nehmen sollte, und so bestellte er zwei Gin mit Orangensaft, und sie sagte ihm nicht, daß sie noch nie in ihrem Leben einen Tropfen Gin getrunken hatte.
Als die Drinks kamen, unterhielten sie sich, die Atmosphäre war ganz locker, und sie erzählte ihm, daß sie in Porthkerris lebe und daß ihr Vater dorthin gezogen sei, weil er Maler sei, aber nun male er nicht mehr. Sie erzählte ihm auch, daß ihre Mutter Französin sei.
»Das erklärt es«, sagte er. »Erklärt was?«
»Ich weiß nicht genau. Irgend etwas an Ihnen. Sie sind mir sofort aufgefallen. Dunkle Augen. Dunkles Haar. Sie sehen nicht so aus wie die anderen Mädchen vom Hilfskorps.«
»Ich bin mindestens drei Meter größer als sie.«
»Das ist es nicht, obgleich ich große Frauen mag. Eine Art.« Er zuckte mit den Schultern und führ auf französisch fort. »Ein gewisses je ne sais quoi. Haben Sie in Frankreich gelebt?«
»Nur kurz. Wir hatten einen Winter lang eine Wohnung in Paris. Aber wir sind öfter hingefahren.«
»Sprechen Sie Französisch?«
»Natürlich.«
»Haben Sie Geschwister?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.« Er erzählte von sich. Er war einundzwanzig. Sein Vater, der das Familienunternehmen, offenbar einen Verlag, geführt hatte, war gestorben, als er zehn gewesen war. Nach dem Internat hätte er in den Verlag eintreten können, aber er wollte sein Leben nicht am Schreibtisch verbringen. Außerdem stand offensichtlich Krieg bevor, und so war er zur Royal Navy gegangen. Seine Mutter, die nicht wieder geheiratet hatte, wohnte in einer Wohnung am Wilbraham Place in Knightsbridge, aber sie war bei Kriegsausbruch aufs Land gezogen und wohnte nun in einem kleinen Hotel in einem entlegenen Winkel von Devon. »Es ist besser, wenn sie nicht in London ist. Sie ist nicht sehr stark, und wenn die Bombenangriffe losgehen, könnte sie niemandem helfen und würde nur anderen Leuten zur Last fallen.«
»Wie lange sind Sie schon auf der Wal-Insel?«
»Einen Monat. Ich hoffe, ich bin in zwei Wochen fertig. Es hängt von der Prüfung ab. Artillerie ist mein letzter Lehrgang. Navigation, Torpedos und Funk hab ich Gott sei Dank schon hinter mir.«
»Wohin gehen Sie dann?«
»Noch eine Woche zur Divisionsakademie und dann auf See.« Sie tranken ihr Glas aus, und er bestellte noch eine Runde. Dann gingen sie in den Speiseraum und
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